65 Jahre nach der ersten Veröffentlichung ist eine neue Übersetzung von James Baldwins Roman Von dieser Welt erschienen. Darin beschreibt er den Rassismus, dem Schwarze Menschen in den USA ausgesetzt sind. Ein Thema, das an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Es ist John Grimes' 14. Geburtstag. Leider hat seine Mutter den feierlichen Anlass vergessen und so gibt es wie jeden Morgen Maisgrütze mit einem Streifen Speck zum Frühstück. Zusammen mit seinen drei Geschwistern und seiner Mutter sitzt John in der engen, ewig schmutzigen Küche.

"Kein Einsatz konnte sie sauber kriegen. Schmutz klebte an den Wänden und auf den Dielen und frohlockte unter der Spüle, wo die Kakerlaken nisteten, haftete in den feinen Rillen der Töpfe und Pfannen, die, täglich geschrubbt, mit schwarzgebrannten Böden über dem Herd hingen, klebte an der Wand, vor der sie hingen, und zeigte sich, wo die abgeplatzte Farbe abstand, in steifen Splittern und Kanten, deren Unterseite hauchdünn schwarz überzogen war." Wir befinden uns in Harlem, New York, im Jahr 1935.

In seinem Debütroman Von dieser Welt beschreibt der US-amerikanische Autor James Baldwin einen Tag im Leben des 14-jährigen John Grimes. Er geht mit seiner Familie zu einem Gottesdienst, bei dem er das erste Mal von einem religiösen Empfinden erfasst wird. Gleichzeitig spürt der Roman den Pfaden nach, die Johns Familie in die enge, schmutzige Küche in Harlem geführt haben.

Eine US-amerikanische Familiengeschichte

Da ist Johns Großmutter, die noch als Sklavin auf einer Plantage im Süden gearbeitet hat. "Bei allem, was sich ereignete: in ihren Freuden, ihrer Pfeife am Abend, ihrem Mann in der Nacht, den Kindern, die sie stillte, und bei ihren ersten Trippelschritten begleitete, bei all ihrer Drangsal, bei Tod, Abschied und Peitsche vergaß sie die Befreiung nicht, die verheißen war und gewiss kommen würde. Sie musste nur durchhalten und auf Gott vertrauen."

Johns Tante und Stiefvater wuchsen, kurz nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei, im Süden der USA auf. Seine Tante Florence trat als junge Frau ihre Reise gen Norden an. Der Norden verhieß, im Gegensatz zum von Rassismus und Sklaverei getränkten Süden, Hoffnung auf Aufstieg. Bildung. Arbeit. Doch am Ende war der einzige Unterschied zwischen Norden und Süden dieser: "Der Norden versprach mehr." Und: "Was er versprach, hielt er nicht, und was er hergab nach langem Zögern und mit einer Hand, holte er sich mit der anderen wieder zurück."

Johns Stiefvater ist ein harter Mann. In seinem unbändigen Stolz brennt die Wut auf das weiße Amerika: "Es gab keinen Mann, ob er nun predigte, fluchte, an einsamen grauen Abenden seine Gitarre zupfte oder nachts in Raserei seine Trompete blies, der nicht den Kopf beugen und das Schmutzwasser des weißen Mannes trinken musste, keinen Mann, dessen Männlichkeit nicht bis an die Wurzel verletzt, dessen Lenden nicht entehrt, dessen Samen nicht ins Vergessen verstreut wurden und, schlimmer, in Wut, Schande und endlosen Kampf. Ja, in ihre Einzelteile wurden sie zerlegt, ihrer Ehre wurden sie beraubt, ihre Namen waren nichts als Staub, der verächtlich über das Feld der Zeit geweht wurde – um wohin zu fallen, wo zu blühen, welche Früchte zu tragen, wo? Ihre Namen gehörten ihnen nicht."

James Baldwin, der Enkel eines Versklavten

Woher der ungewöhnliche Name Baldwin käme, wurde der Autor in einem Interview mit der BBC im Jahr 1963 gefragt. "Das ist der Name meines Vaters", antwortete dieser, "und mein Vater war der Sohn eines Sklaven. Sein Name kommt von seinem Master. Jeder amerikanische n* hat einen solchen Namen. Der Name von der Rechnung des Kaufes, wenn du verkauft wurdest und du Mr. Baldwins n* wurdest. Und in dem Moment der Befreiung war das der einzige Name, den du hattest. Der andere ist zerstört worden."

James Baldwin ist 1924 in Harlem, New York, geboren. Er ist Schwarz, homosexuell, hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem Stiefvater und war ab seinem 14. Lebensjahr für kurze Zeit als Jugendprediger tätig. Seine Biografie weist somit starke Ähnlichkeiten mit derjenigen des 14-jährigen Protagonisten John auf. In Von dieser Welt gibt Baldwin einen Einblick in das Leben innerhalb einer tiefgläubigen, Schwarzen Community. Die Protagonist*innen sind, bis auf wenige Ausnahmen, Schwarz.

Die Brutalität des weißen Systems

Auch die Gewalt und Unterdrückung, welche das von Weißen dominierte System für Schwarze Menschen in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts bedeutet, kommen nur am Rande vor. Und trotzdem dringt die Brutalität aus jeder Pore des Buches. Ein Widerspruch? Nein. Von dieser Welt spielt in einer Zeit, in der die Sklaverei erst vor Kurzem abgeschafft wurde. In der im Süden regelmäßig Lynchmorde auf Schwarze Menschen verübt wurden. In der Postkarten, auf denen Opfer dieser Lynchmorde abgebildet sind, beliebte Souvenirs waren. In der es in Bussen getrennte Sitze für die weiße und Schwarze Bevölkerung gab. In der viele Schwarze Menschen dadurch, dass sie Analphabet*innen waren, von Wahlen ausgeschlossen wurden. In der die Schwarze Bevölkerung auch im Norden systematisch diskriminiert wurde, sei es auf dem Wohnungs- oder auf dem Arbeitsmarkt.

Die tiefe Religiosität der Schwarzen Community, die in Von dieser Welt beschrieben wird, lässt sich nur unter Berücksichtigung der allgegenwärtigen Gewalt, Unterdrückung und Ungerechtigkeit verstehen. Die tiefe Frömmigkeit der beschriebenen Community ist ihre Antwort auf den sie umgebenden Rassismus. Die weiße Welt deklassiert die Protagonist*innen zu Menschen zweiter Klasse, hindert sie daran, eine gleichrangige sozio-ökonomische Stellung einzunehmen – also wenden sie sich Gott zu. Der Kirchgesang ersetzt den Farbfernseher, das Gebet den Kleinwagen. Religiosität wird zum way of life.

Zwischen Martin Luther King und Malcom X

"Schwarze sind seit 400 Jahren Opfer weißer Gewalt in diesem Land. Ahnungslosen Schwarzen Predigern folgend, glaubten wir uns Gott ähnlich, wenn wir dem Folterknecht die andere Wange hinhalten", sagte der berühmte Aktivist Malcom X 1963 in einem Interview. Malcom X und das Black Power Movement begehrten gegen diese Haltung auf – nichts würde sich an dem System ändern, wenn man immer nur duldsam die andere Wange hinhalte, so seine Meinung. Den gegenteiligen Ansatz vertrat Martin Luther King und das Civil Rights Movement: Es könne nur einen gewaltfreien Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit geben.

Baldwin verortete sich ideologisch zwischen Malcom X und Martin Luther King – was sich in Von dieser Welt durchaus widerspiegelt, versteht man doch die emotionalen Ursprünge beider Ansätze nach der Lektüre des Romans besser. Einerseits die rasende Wut auf das Ohnmachtsgefühl, auf das Gefühl, nichts an der eigenen Lage ändern zu können, auf die Fremdbestimmtheit der eigenen Lebensmöglichkeiten und der Wunsch, sich alles zu erkämpfen, was einem ungerechterweise verwährt wird, zur Not mit Gewalt. Andererseits der auf christlichen Werten beruhende Glaube an die Kraft der Liebe und an die Menschlichkeit, die sich früher oder später durchsetzen müsse.

In all seinen Büchern erzählt Baldwin davon, wie es ist, als Schwarzer Mensch in einer Welt zu leben, in der man als das Nicht-Weiße, das Andere, das Nicht-Normale klassifiziert wird. "Das Wort 'N*' ist ein aufgeladener Begriff, weil er von der Republik dafür verwendet wird, um zu zeigen, dass man nicht ein Teil von ihr ist", sagte Baldwin in einem Interview mit der BBC 1963.

In ebendiesem Interview wurde Baldwin auch gefragt, ob er mit seinen Büchern eine Message verfolge. Der Autor antwortete:

Falls ich ein Autor mit einer Message bin, dann ist es diese: sich die Mühe zu machen, andere Menschen so zu behandeln, als wären sie einfach menschliche Wesen. Andere Menschen exakt so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden wollen würde.
James Baldwin

Warum ist Baldwins Werk heute noch relevant?

Von dieser Welt erschien erstmals 1953. Dieses Jahr wurde es mit einer neuen deutschen Übersetzung wieder aufgelegt. Zu Recht. Denn Baldwins Debütroman ist aktuell wie eh und je.

Tamir Rice, 12. Erschossen am 23.11.2014.

Trayvon Martin, 17. Erschossen am 26.02.2012.

Aiyana Stanley-Jones, 7 Jahre. Erschossen am 16.05.2010.

Cameron Tillman, 14. Erschossen am 23.09.2014.

Eric Garner, 43. gestorben beim gewaltsamen Anlegen von Handschellen am 17.07.2014.

Michael Brown, 18. Erschossen am 09.08.2014.

Akai Gurley, 28. Erschossen am 20.11.2014.

Walter Scott, 50. Erschossen am 04.04.2015.

William Chapman II, 18. Erschossen am 22.04.2015.

Jeremy McDole, 28. Erschossen am 23.09.2015.

Jamar Clark, 24. Erschossen am 15.11.2015.

Alton Sterling, 37. Erschossen am 05.07.2016.

Terence Crutcher, 40. Erschossen am 16.09.2016.

Philando Castile, 32. Erschossen am 06.07.2016.

Sam Dubose, 43. Erschossen am 19.07.2015.

Darius Graves, 31. Erschossen am 04.08.2015.

Christian Taylor, 19. Erschossen am 07.08.2015.

Robert Lawrence White, 41. Erschossen am 11.06.2018.

Marcus-David L. Peters, 24. Erschossen am 14.05.2018.

Stephon Clark, 23. Erschossen am 18.03.2018.

Diese Liste könnte noch sehr lange weitergeführt werden. Alle Opfer waren Schwarz. Alle waren unbewaffnet. Alle wurden "fatally shot", tödlich von der Polizei erschossen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 ist es für einen Schwarzen US-Amerikaner dreimal wahrscheinlicher, von der Polizei getötet zu werden, als für einen weißen. Und diese Zahl ist nur das extremste Beispiel dafür, wie rassistisch die Gesellschaft nach wie vor ist – egal, ob die USA nun schon einmal von einem Schwarzen Präsidenten regiert wurde oder nicht.

Ich bin!

"Es gibt Tage, and denen man sich fragt, welche Rolle man in diesem Land spielt und welche Zukunft man in ihm hat", sagte Baldwin in einem Interview. "Und wie man mit der überwältigenden, achtlosen, gedankenlosen, grausamen, weißen Mehrheit verständlich macht, dass es dich gibt."

Die Bewegung Black Lives Matter kann man als Ausdruck dieses Versuchs, die Gewalt verständlich zu machen, verstehen. Ebenso die Unruhen in Ferguson 2014 und 2015, ausgelöst durch den Tod von Michael Brown, der von der Polizei erschossen wurde. Und die Proteste in Baltimore 2015 nach dem Tod von Freddie Gray, der seinen von Polizisten zugefügten Verletzungen erlag. "I am", schrie ein Demonstrant bei den Unruhen in Ferguson der aufmarschierten Polizei entgegen. Ich bin.

Baldwins Roman Von dieser Welt goss diesen Schrei in ein Buch. Ich bin, John Grimes.

*Wir übernehmen an dieser Stelle die englischen Begriffe, die James Baldwin selbst verwendet. 

Anmerkung: In einer vorherigen Version des Textes schrieben wir, dass Eric Garner erschossen worden ist. Das ist falsch. Eric Garner starb beim gewaltsamen Anlegen von Handschellen. Wir haben den Fehler korrigiert.