Du stehst in deiner Küche. Wieder einmal fliegt eine Stubenfliege an deiner Nase vorbei, macht eine Runde um deinen Kopf und setzt sich schließlich auf deinen linken Unterarm. Nichts Besonderes, diese paar Fliegen sind zu deinen Mitbewohner*innen geworden, mit eurer Koexistenz hast du dich längst abgefunden. Achtlos schnappst du nach ihr. Du weißt, die Chancen, sie einzufangen, sind minimal. Aus bloßer Gewohnheit probierst du es trotzdem. Denn ab und zu, sehr selten, gelingt es dir ja wirklich. Und dann machst du große Augen, streckst selbstbewusst die Brust raus und erzählst irgendjemanden stolz von deiner Leistung.

Die Stubenfliege ist im Durchschnitt nur sieben Millimeter groß und 20 Tage am Leben. Oft schafft sie es nicht, durch ein weit geöffnetes Fenster zu fliegen, sondern versucht stattdessen, sich stundenlang durch eine geschlossene Scheibe zu drücken. Wieso ist es also für uns als Gigant*innen so schwer, ein Tierchen einzufangen, dem wir in vielerlei Hinsicht so überlegen scheinen? Natürlich, weil es extrem reaktionsschnell ist, sagen wir uns. Diese Facettenaugen sehen alles, sagen wir uns.

In den allermeisten Fällen ist die Fliege also flinker als wir. Sie spielt uns so mühelos aus, es scheint fast so, als würden wir uns in Zeitlupe bewegen. Und genauso ist es.

Aus der Sicht einer Fliege bewegen wir uns tatsächlich in Zeitlupe. Eine Fliege – genau genommen jede einzelne Spezies – nimmt Zeit anders wahr. Der Grund dafür sind Unterschiede im Sehvermögen. Daher erscheinen Fliegen für uns so schnell und wir für sie so langsam.

Zeit ist Wahrnehmungssache

Dass Tiere und Menschen das Gesehene als einen nahtlosen Film erfahren, ist den jeweiligen Gehirnen zu verdanken. Dieses baut nämlich einzelne Bilder, die das Auge an das Gehirn sendet, zu einer fließenden Abfolge zusammen. Damit das das Gehirn aber schafft, müssen die Bilder in einem bestimmten Sekundentakt ankommen. Die Rate in der das geschieht, hat den unangenehmen Namen Flimmerverschmelzungsfrequenz. Das folgende Video soll das veranschaulichen: Ungefähr bei Minute 0:19 wird aus dem blinkenden Licht ein monotones Bild, zumindest für den Menschen.

Anders erklärt: Werden dem Auge einzelne Bilder in immer schnellerer Folge angeboten, so sind sie ab einer bestimmten Frequenz, der Flimmerverschmelzungsfrequenz, nicht mehr als einzelne Reize, sondern als stetiger Reiz wahrnehmbar. Das ist für jedes Lebewesen anders. Beim Menschen liegt dieser Wert bei etwa 60 Bildern pro Sekunde, bei der Fliege bei ungefähr 250 – mehr als viermal so viel. Bei einer Schildkröte hingegen bei ungefähr 15 Bildern pro Sekunde.

Wenn also ein Mensch, eine Schildkröte und eine Fliege auf eine Uhr mit einem tickenden Sekundenzeiger schauen, nehmen alle drei Spezies die Zeit anders wahr. Der Mensch sieht die Uhr in einer bestimmten Geschwindigkeit ticken – im Sekundentakt –, die Schildkröte sieht denselben Zeiger sich doppelt so schnell bewegen, die Fliege würde hingegen jedes Ticken viermal langsamer wahrnehmen. Die Geschwindigkeit von Zeit ist also für jede Lebensart unterschiedlich.

Vielleicht vorher noch einen Kaffee?

Das bedeutet, wenn wir in unseren Augen blitzgeschwind auf eine Fliege schlagen, hat diese um abzuhauen mehr als viermal so viel Zeit, als wir selbst wahrnehmen. Während wir unsere eigene Hand auf die Fliege rasen sehen, stockt unsere Hand für die Fliege lachhaft langsam in der Luft herum. Bevor sie sich dazu entschließt wegzufliegen, könnte sie vorher ein Sudoku lösen, sich die Nägel feilen und eine Freundin anrufen.

Selbst innerhalb derselben Spezies gibt es Unterschiede. Ein Forscher*innenteam rund um Paloma Gonzales-Bellido an der Cambridge University entdeckte eine in Europa heimische Superfliege, die selbst für ihre Artverwandten schnell ist. Sie könne in weniger als einer Sekunde von ihrem Rastplatz in die Luft schnellen, dreimal ihre Beutefliege umkreisen, sie fangen und den Körper zurück zu ihrem Rastplatz bringen.

Laut Andrew Jackson, Professor am Trinity College Dublin, gebe es auch beim Menschen unterschiedliche Zeitwahrnehmungen. Demnach sei die oft gehörte Beschwerde älterer Personen "Warum vergeht die Zeit so schnell" tatsächlich gerechtfertigt. "Es gibt Beweise dafür, dass sich Zeit für Kinder langsamer bewegt als für Erwachsene. Die Flimmerverschmelzungsfrequenz beim Menschen hängt mit der jeweiligen subjektiven Zeitwahrnehmung zusammen. Und die ist bei Erwachsenen sicherlich schneller als bei Kindern." Das ist wohl aber so minimal, dass sich die Stubenfliege ins Fäustchen lachen würde. Und zwar mindestens viermal schneller als wir.