Zwei Expert*innen erklären, warum in der Krise Verschwörungserzählungen so erfolgreich sind und was du tun kannst, wenn jemand in deinem Umfeld sie verbreitet.

Warum glauben Menschen an Verschwörungserzählungen?

"In Situationen, in denen Menschen das Gefühl haben, nicht die Kontrolle über eine Situation zu haben, in denen sie sich unsicher fühlen, versuchen sie, Kontrolle durch psychologische Mechanismen herzustellen", sagt die Bloggerin und Netzaktivistin Katharina Nocun, die zusammen mit der Psychologin Pia Lamberty das Buch Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen geschrieben hat. Der Glaube an Verschwörungen kann auch als ein solcher Mechanismus verstanden werden.

Es klingt paradox: Aufgrund eines gefühlten oder tatsächlichen Kontrollverlusts glaubt man an Erzählungen, die den Weltuntergang heraufbeschwören, an Zwangsimpfungen, eine neue Weltordnung, alles zum Schaden der Weltbevölkerung?

Der Glaube an eine Verschwörung kann ein Hilfskonstrukt sein, um Ordnung in das Chaos zu bringen.
Katharina Nocun

"Für einige Menschen ist es einfacher zu glauben, es gäbe einen großen Plan und klare Schuldige", sagt Nocun. Das sei leichter zu akzeptieren, als dass Ereignisse von vielen verschiedenen Faktoren abhängen, die sich nicht alle beeinflussen lassen. "Der Glaube an eine Verschwörung kann ein Hilfskonstrukt sein, um Ordnung in das Chaos zu bringen."

Dies ist aber nur einer von mehreren Erklärungsansätzen aus der Forschung, warum Menschen an Verschwörungserzählungen glauben. Ein anderer besagt, dass sie für einige Menschen eine Art Mittel zum Zweck ist: Dadurch, dass ein Mensch an etwas glaube, das gängigen Erklärungsmustern widerspreche, könne er sein Bedürfnis danach befriedigen, sich von der Masse abzuheben. "Das ist eine Art Held*innengeschichte", so Nocun. "In einer Geschichte, in der es die bösen Verschwörer*innen gibt und die Guten, welche die Verschwörung aufgedeckt haben, will ich Teil der Guten sein."

Wann wird aus berechtigter Skepsis eine Verschwörungserzählung?

Nicht jeder Zweifel an Politik oder Wissenschaft ist gleichzusetzen mit einer Verschwörungserzählung. Jan Skudlarek, Philosoph und Autor des Buches Wahrheit und Verschwörung, unterscheidet zwischen gesundem und toxischen Zweifel. Gesunder Zweifel sei offen für Gegenargumente und faktenorientiert. "Eine Person mit einem legitimen Erkenntnisinteresse würde überprüfen, ob es Argumente und Beweise für eine Hypothese gibt. Wenn nicht, verwirft sie sie", sagt Skudlarek.

Gefühlte Wahrheiten sind keine Wahrheiten.
Jan Skudlarek

"Beim toxischen Zweifel will man nur seine schon bestehende Meinung bestätigt sehen", sagt er. "Viele Verschwörungsideolog*innen argumentieren nicht mit Fakten, sondern mit gefühlten Wahrheiten. Sie können keine Beweise vorlegen, sondern fühlen es halt so. Aber gefühlte Wahrheiten sind keine Wahrheiten. Sie weichen häufig eklatant ab von der faktenbasierten Wirklichkeit."

Als Beispiel für berechtigte Skepsis nennt Skudlarek die Frage danach, warum Medien über bestimmte Ereignisse berichten und über andere nicht. Eine Verschwörungserzählung sei es, wenn man pauschal von der angeblichen Lügenpresse sprechen würde, dass die Medien von geheimen Hintermenschen gesteuert werden würden, um die Öffentlichkeit zu täuschen. Für diese Aussage gebe es keine Fakten, sie sei falsch.

Katharina Nocun sagt, dass der Hang zur Pauschalisierung eine Art Frühwarnsystem sei. Zweifel sei problematisch, wenn dabei undifferenziert gegen "die Medien", "die Politik", oder "die da oben" gewettert wird. Durch diese Pauschalisierung werde ein engstirniges Schwarz-Weiß-Weltbild transportiert, das klare Freund*innen-Feind*innen-Zuordnungen konstruiert.

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Wer ist anfällig für den Glauben an Verschwörungserzählungen?

Die schlechte Nachricht: Nicht nur – zugespitzt formuliert – vermeintliche Spinner*innen. "Wir alle haben die Veranlagung dazu, unter bestimmten Umständen an solche Verschwörungen zu glauben", sagt Katharina Nocun. Verschwörungsgläubige kämen aus allen Schichten der Gesellschaft.

Durch die Verbreitung des Vorurteils, es handle sich dabei nur um vermeintliche Internetfreaks, werde man Teil des Problems. "In Gesprächen mit Angehörigen haben wir erlebt, dass diese Vorurteile dazu führen, dass viele Angehörige sich schämen, Hilfe zu suchen oder mit anderen darüber zu sprechen, wenn es einen Fall in der Familie oder im Freund*innenkreis gibt", sagt Nocun. "Man frisst es in sich hinein, weil man das Gefühl hat, das kann doch nicht uns betreffen, das betrifft doch nur andere."

Wie verbreitet verschwörungsideologische Denkmuster in der Gesellschaft sind, zeigt zum Beispiel die Mitte-Studie 2018/2019 der Friedrich-Ebert-Stiftung, die rechtsextreme Einstellungen in der Bevölkerung misst – darunter auch die Neigung, an Verschwörungserzählungen zu glauben. 46 Prozent der Befragten meinen, es gebe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Fast ein Viertel der Befragten stimmte der Aussage zu, dass Medien und Politik unter einer Decke stecken. Ein Drittel glaubt, dass Politiker*innen "nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte seien" und jede zweite befragte Person gab an, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Expert*innen.

Warum sind Verschwörungserzählungen so gefährlich?

Das sind erschreckend hohe Zahlen – insbesondere, wenn man den Faktor der sogenannten Verschwörungsmentalität hinzunimmt: Menschen, die an eine Verschwörungserzählung glauben, so Katharina Nocun, stimmen häufig auch anderen Erklärungen dieser Art zu. Also dass beispielsweise Menschen, die glauben, dass hinter den Anschläge am 11. September 2001 eigentlich die US-Regierung selbst steckt, eher geneigt sind zu glauben, dass hinter dem Attentat auf den früheren US-Präsidenten John F. Kennendy ebenfalls die US-Regierung stecke. So wird aus dem Glauben an eine einzelne Verschwörungserzählung eine Verschwörungsideologie, bei der die ganze Welt ein Ort voller geheimer Verschwörungen ist.

Das macht viele Verschwörungserzählungen, die auf den ersten Blick harmlos wirken, anschlussfähig für die extreme Rechte. Verschwörungsideologische Narrative sind in der rechtsextremen Szene weit verbreitet. Wenn man beispielsweise daran glaube, so Nocun, dass es eine globale Medienverschwörung gebe, dann sei das anschlussfähig an das Systempresse- und Lügenpresse-Narrativ der extremen Rechten. Oder wenn Gruppen mutmaßen, die Wirtschaft würde von einer kleinen Elite kontrolliert werden, kann es sein, dass damit eigentlich gemeint ist, dass die jüdische Familie Rothschild dahinterstecke – so landet man letztendlich bei einer eindeutig antisemitischen Verschwörungserzählung der extremen Rechten.

Verschwörungserzählungen können als Radikalisierungsbeschleuniger wirken.
Katharina Nocun

Verschwörungserzählungen seien weder harmlos noch witzig – sondern erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass betroffene Personen Gewalt befürworten oder sogar selbst gewalttätig werden, schreiben Nocun und Lamberty in ihrem Buch. Grund dafür ist unter anderem die sogenannte Sündenbock-Funktion. "Verschwörungserzählungen arbeiten stark mit der Unterscheidung Freund-Feind und es sind immer Bedrohungserzählungen", sagt Jan Skudlarek. Häufig werden die Feind*innen, die Schuldigen, die hinter Verschwörungen stecken, klar benannt. "Damit stacheln sie gegen diese Person oder Personen auf", so Skudlarek.

"Verschwörungserzählungen können als Radikalisierungsbeschleuniger wirken", erklärt Katharina Nocun. Der Attentäter von Halle glaubte beispielsweise, dass jüdische Personen eine Umvolkung planen, bei der die europäische Bevölkerung durch muslimische Einwanderer*innen ausgetauscht werden würde. Mit dieser Verschwörungserzählung legitimierte er seinen Anschlag, bei dem er Jüd*innen in einer Synagoge töten wollte.

Was machen Verschwörungserzählungen mit unserer Gesellschaft?

Doch nicht erst, wenn sich der Glaube an eine Verschwörungserzählung in Gewalt kanalisiert, wird er problematisch – auch das Vertrauen in Institutionen und die Gesellschaft erodiert.

Im Zuge der Corona-Pandemie könne man beispielsweise eine Wissenschaftsfeindlichkeit beobachten, die sich aus der Fehlannahme speise, dass alle Meinungen gleich viel wert seien, sagt Jan Skudlarek. "Es gibt den Virologen Christian Drosten, der sagt, Masken seien sinnvoll. Dann gibt es den Sänger Xavier Naidoo, der in einem Telegram-Kurzvideo sagt, Masken seien unwirksam. Diese Positionen sind nicht gleichwertig. Man fragt ja auch nicht den Klempner, wenn man Zahnschmerzen hat, sondern den Zahnarzt. Dass sich heute jeder gleichkompetent glaubt, ist ein großer Irrtum."

Wenn man Verschwörungserzählungen kommuniziert, trägt man Mitverantwortung dafür, dass damit Hass auf bestimmte Menschen oder Menschengruppen geschürt wird.
Jan Skudlarek

Das Problem sei nicht nur das eigene Verhalten, das eventuell Menschen gefährde – sondern auch das Weitertragen der Unwahrheiten. "Wenn man Verschwörungserzählungen kommuniziert, trägt man Mitverantwortung dafür, dass damit Hass auf bestimmte Menschen oder Menschengruppen geschürt wird. Oder auch dafür, dass Menschen ihre Kinder nicht mehr impfen lassen, weil sie Angst vor Big Pharma haben", sagt Skudlarek. "Verschwörungsdenken beschreibt nicht nur die Welt falsch, sondern gibt auch falsche Anleitungen, diesbezüglich zu handeln."

Ein Beispiel für gefährliches Handeln, das auf Verschwörungserzählungen basiert, sind die Impfgegner*innen, die glauben, hinter wichtigen Impfungen stecke eine Verschwörung der Pharmaindustrie. Die Folge? "In Europa sterben Kinder an vermeidbaren Krankheiten", sagte der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO) laut Angaben von ZEIT ONLINE auf dem Weltimpfgipfel 2019. Die WHO erklärte Impfgegner*innen vergangenes Jahr zur globalen Bedrohung.

Was sollte ich tun, wenn ich mitkriege, dass jemand Verschwörungserzählungen verbreitet?

Katharina Nocun rät dazu, mutig zu sein und einzugreifen, wenn man mitkriegt, dass Verschwörungserzählungen verbreitet werden. "Gerade bei Diskussionen im Internet ist es wichtig, den stillen Mitleser*innen zu zeigen: Nicht alle teilen diese Haltung und sie wird auch nicht einfach so hingenommen." Dasselbe gelte außerhalb des Internets – hier rät Nocun allerdings, zunächst die Situation in Bezug auf Gefahr für sich selbst abzuschätzen.

Die Radikalisierten wird man mit Gegenrede nicht mehr erreichen.
Jan Skudlarek

"Wenn man es hinnimmt und nichts dazu sagt, normalisiert man solche Aussagen", sagt die Autorin. Das führe im schlimmsten Fall dazu, dass bei der nächsten Party oder der nächsten Diskussion im Familienchat nicht nur eine, sondern zwei Personen solche Aussagen auspacken. Gegenrede zu betreiben sei zwar anstrengend, aber man könne dazu beitragen, dass eine Person ihre Aussagen und Quellen hinterfragt. "Die Radikalisierten wird man mit Gegenrede nicht mehr erreichen", sagt Jan Skudlarek. "Aber nicht alle werden sich schon so weit radikalisiert haben, dass sie unempfänglich für Gegenargumente sind."

Wann sollte ich extern Hilfe holen, wenn enge Freund*innen oder Familienangehörige Verschwörungserzählungen verbreiten?

Laut Katharina Nocun würden sich Verschwörungsgläubige selten mit der Bitte um Hilfe an Familie oder Freund*innen wenden – häufig gebe der Glaube an Verschwörungserzählungen Halt im Leben. Gleichzeitig zeigen Studien, dass sich dieser Glaube negativ auf das psychische Wohlbefinden der Betroffenen auswirken kann. "Wenn ich glaube, dass Wissenschaft, Politik und Medien alle unter einer Decke stecken, wenn alles fremdbestimmt ist, wenn es mir nicht gelingt, dagegen zu arbeiten, kann das schlimme Folgen für die*den Einzelne*n haben", sagt Nocun. Menschen, die in das Milieu abrutschen, seien oft sehr niedergeschlagen und zögen sich von Freund*innen und Familien zurück.

Laut der Autorin ist es ratsam, als Freund*in oder Angehörige*r möglichst früh einzuschreiten. Am Anfang würden Betroffene ihre Informationen oft noch aus verschiedenen Quellen beziehen, sowohl aus seriösen Medien als auch beispielsweise aus einschlägigen YouTube-Videos oder Blogbeiträgen. "Je länger man wartet und je mehr sich das Weltbild einer angeblichen globalen Verschwörung verfestigt, desto schwieriger wird es", sagt Nocun. "Wenn jemand an eine große Medienverschwörung glaubt, wird diese Person auch keinem Faktencheck eines etablierten Mediums mehr glauben, weil sie sagt, das sei Teil der Verschwörung."

An dieser Stelle sei es laut Nocun vielversprechender, mit Fragen zu arbeiten, statt die betroffene Person mit Fakten und Studien zu bombardieren. Würde jemand beispielsweise stark pauschalisierend von "den Medien" sprechen, könne man nachhaken, wer denn diese Medien überhaupt seien. Man könne hinterfragen, warum diese Person alle zusammen in einen Topf schmeißt. "So kann man versuchen, an einzelnen Stellen das Schwarz-Weiß-Bild zu durchbrechen", so Nocun.

In einigen Fällen könne es auch helfen, einfach nur zu fragen: Hey, wie geht's dir denn gerade eigentlich? Schließlich wisse man aus der Forschung, dass ein subjektives Gefühl des Kontrollverlustes dazu führen kann, dass Menschen eher an Verschwörungserzählungen glauben. "Manchmal steckt da ja vielleicht ein privates Problem dahinter", sagt Nocun. "Dadurch, dass man sich Zeit nimmt, zuhört, nachfragt, kann man möglicherweise eine menschliche Brücke bauen, über die man später versuchen kann, inhaltlich zu argumentieren."

Wohin kann ich mich wenden?

Eine mögliche Anlaufstelle auf der Suche nach Hilfe kann die Sektenberatung sein – denn Verschwörungserzählungen sind häufig fester Bestandteil von religiösem Sektenglauben. Die Vereine erreichen jährlich auch Anfragen, bei denen es nicht um den Ausstieg aus Sekten, sondern den Ausstieg aus dem Verschwörungsmilieu geht. Die Leiterin des Vereins Sekten-Info NRW, Sabine Riede, beklagte gegenüber Netzpolitik einen rasanten Anstieg an Hilfegesuchen im Zuge der Corona-Pandemie. Auch die Amadeu Antonio Stiftung hat im Rahmen des Projekts No World Order zahlreiche Broschüren mit Hilfestellungen für Angehörige veröffentlicht.

Auch für Opfer von Verschwörungserzählungen gibt es Hilfsangebote – also für diejenigen, die als sogenannte Sündenböcke unschuldigerweise für Krisen oder Ereignisse verantwortlich gemacht werden. Für sie können laut Katharina Nocun Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt eine wichtige Anlaufstelle sein – beispielsweise die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus oder HateAid, ein Verein der sich gegen Hass im Netz engagiert und hierbei auch rechtlich gegen Täter*innen vorgeht.