Die indische Regierung will dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir Sonderrechte entziehen. Sie hat in der Region Ausgangssperren verhängt, Kaschmiris sind von der Außenwelt abgeschnitten. Wir erklären die Hintergründe. Dem von Indien kontrollierten Teil der Region Kaschmir soll der Autonomiestatus entzogen werden. Das hat die indische Regierung am Montag per Präsidialdekret beschlossen, wie Innenminister Amit Shah mitteilte. Ob ein Verfassungsartikel per Präsidialdekret geändert werden darf, muss wahrscheinlich noch vor Indiens Oberstem Gericht verhandelt werden.

Kaschmir ist eine Region im Himalaya und liegt teilweise im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir. Die Artikel 370 und 35A der indischen Verfassung räumten dem Bundesstaat seit 1950 offiziell weitreichende politische Freiheiten ein: Das gewählte Parlament des Bundesstaates sollte eigenständig die politischen Geschicke in Kaschmir lenken dürfen. Nur für die Verteidigungspolitik, Außenpolitik und Kommunikation sollte die indische Unionsregierung verantwortlich sein. Aber auch Entscheidungen in diesen drei Bereichen mussten vom Kaschmir-Parlament explizit gebilligt werden. Diese Sonderregelung, die ursprünglich temporär gedacht war, wurde im Oktober 2015 vom Jammu-und-Kaschmir-High Court bestätigt. Das oberste Gericht des Bundesstaates entschied, dass der Artikel 370 dauerhafter Bestandteil der indischen Verfassung sein sollte.

Warum gab es für den Bundesstaat Jammu und Kaschmir Sonderrechte?

Der Sonderstatus des Bundesstaates mit rund 12,5 Millionen Einwohner*innen geht auf einen historischen Konflikt zurück: Kaschmir ist eine Region, die zwischen China, Pakistan und Indien liegt.

Nachdem Großbritannien die kolonialisierten Länder Indien und Pakistan im Jahr 1947 in die Unabhängigkeit entließ, wurde einigen indischen Fürstenstaaten die Entscheidung überlassen, Teil eines der beiden Staaten zu werden. Kaschmir wird mehrheitlich, zu knapp 68 Prozent, von Muslim*innen bewohnt. Nach der Entkolonialisierung gab es somit die ersten Vorstöße aus dem muslimisch geprägten Pakistan, den bis dato unabhängigen Staat Kaschmir an das Nachbarland zu binden.

Im Oktober 1947 erklärte jedoch der hinduistische Herrscher von Kaschmir, Hari Singh, das Land an Indien anzuschließen, wogegen sich viele Kaschmiris wehrten. Kurz darauf kam es zum ersten indisch-pakistanischen Krieg. Die Zahl der Todesopfer wird auf rund 8.000 Menschen geschätzt. Der Krieg endete 1949 mit der formalen Zweiteilung von Kaschmir in einen indischen und einen pakistanischen Teil. Um bei den im Bundesstaat Jammu und Kaschmir lebenden muslimischen Kaschmiris für Akzeptanz zu werben, wurde ihm mit der indischen Verfassung aus dem Jahre 1950 ein Sonderstatus zugesprochen.

Warum führte die Autonomie des indischen Teils von Kaschmir zu Konflikten?

Immer wieder gab es von Regierenden des Bundesstaates Jammu und Kaschmir Bemühungen, etwa durch Volksabstimmungen, die vollständige Unabhängigkeit von Indien wie auch von Pakistan zu erreichen. Das führte zu Konflikten. Die indische Union schränkte daraufhin Stück für Stück die Autonomie des Bundesstaates weiter ein. 1965 kam es zum zweiten indisch-pakistanischen Krieg, nachdem pakistanische Kämpfer*innen in die Region eingedrungen waren. Auch nach dessen Ende gab es zwischen den Ländern bis 1984 vereinzelte Auseinandersetzungen um bestimmte Gebiete in dem Bundesstaat.

Nach 1989 gab es vermehrt Rufe nach einer sogenannten Befreiung der muslimischen Kaschmiris von indischer Vorherrschaft, einem Anschluss an Pakistan oder nach einem vereinten Kaschmir gemeinsam mit den anderen Teilen der Region. Es kam zu Anschlägen durch muslimische Extremist*innen, indische Truppen antworteten mit Gewalt. Es kam zu Zusammenstößen zwischen indischen und pakistanischen Truppen. Seit 2016 gab es große Unruhen in der Region und schwere Auseinandersetzungen zwischen Kaschmiris und indischen Sicherheitskräften. Es kam zu wochenlangen Ausgangssperren in dem Bundesstaat. Islamistische Terrorgruppen wie Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammad verübten an verschiedenen Orten in Indien Terroranschläge.

Was jetzt?

Die indische Regierung unter Premierminister Narendra Modi, der dem nationalistisch-hinduistischen Lager zugeordnet wird, plant die Aufhebung mancher Sonderregelungen in Jammu und Kaschmir, wie etwa des Kaufverbots von Land für Inder*innen.

Zusätzlich wurden 10.000 Soldaten nach Kaschmir geschickt. Insgesamt sollen sich dort nun 350.000 Soldaten, Polizist*innen und andere Sicherheitskräfte befinden. Straßensperren ziehen sich durch das Land. Auch die indische Luftwaffe sei in Alarmbereitschaft. Seit der Nacht von Sonntag auf Montag sind die Telefon- und Internetverbindungen im Bundesstaat Jammu und Kaschmir gekappt. Viele Menschen sorgen sich seitdem um ihre Verwandten und Bekannten. In der regionalen Hauptstadt Srinagar und im Umland wurden Ausgangssperren verhängt. Politiker*innen aus Jammu und Kaschmir wurden unter Hausarrest gestellt. Versammlungen sind verboten und Schulen geschlossen.

Am Samstag hatte die indische Regierung Tourist*innen in Kaschmir aufgefordert, die Region wegen vermeintlicher Terrorgefahren umgehend zu verlassen. Daraufhin kam es zu Tumulten an Flughäfen und Bahnhöfen.

Was sind die Reaktionen?

"Heute ist der dunkelste Tag in der indischen Demokratie", sagte die Politikerin Mehbooba Mufti von der Demokratischen Volkspartei, die bis 2018 Ministerpräsidentin in Kaschmir war. Sie wirft der Regierung in Neu-Delhi vor, etwa durch die Aufhebung des Landkaufverbots, die Demografie der Region zu ändern und Muslim*innen zur Minderheit zu machen.

Auch die Regierung in Pakistan verurteilte die Entscheidung Indiens: "Als Partei in diesem internationalen Konflikt wird Pakistan sämtliche möglichen Optionen anwenden, um diesen illegalen Schritten entgegenzutreten", teilte das Außenministerium mit.

Der Geograf Hermann Kreutzmann sagte in einem Interview mit dem Deutschlandfunk, eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen Pakistan und Indien sei zwar unwahrscheinlich, doch befürchte er eine "Destabilisierung des Verhältnisses".