Jule ist Mitte Dreißig, lebt in einer Großstadt und hat ähnliche Alltagsprobleme wie alle in ihrem Umfeld: Mit Männern ist es schwierig, Termine hat sie zu viele und Geld immer zu wenig. Wäre da nicht die Pillendose in Jules Handtasche. Einmal am Tag nimmt Jule eine Tablette, seit sieben Jahren. Das hält ihr Geheimnis in Schach. Jule ist HIV-positiv.

Mit 27 bekommt sie die Diagnose, zufällig, beim Blutspenden. Da ist der Virus schon ein Jahr in ihr aktiv. Jules Verlauf ist typisch für HIV-positive Frauen: Der Virus wird meist später entdeckt als bei Männern, denn kaum jemand rechnet damit, oft nicht einmal Gynäkolog*innen. Von rund 7.000 jährlichen Neuansteckungen bei Frauen wird jede Dritte erst im Stadium AIDS entdeckt.

Ein Urlaubsflirt in Portugal war infiziert, drängte Jule, das Kondom wegzulassen. Er steckte sie an. Und leugnete am Telefon alles. Jule schläft lange mit niemandem, lässt keinen Mann an sich heran. Nicht, weil sie den Männern nicht mehr vertraut, sondern weil da ein Unwohlsein ist, das sich neben ihrer Wut zusammenkauert, der Wut auf sich selbst: "Ich habe gedacht: Mein Blut ist eklig", sagt Jule.

Im Grunde nicht dramatisch

Dabei drängt eine einzige Tablette am Tag ihre Virenlast nach der Diagnose bald so weit zurück, dass man sie in Jules Blut nicht mehr nachweisen kann. Jule kann gesunde Kinder bekommen, genauso alt werden wie ihre Freund*innen. Ganz ohne Symptome und Nebenwirkungen. Sie kann sogar auf Kondome beim Sex verzichten, die Medikamente machen eine Übertragung des Virus unmöglich. "Ich habe jetzt viel tiefere Beziehungen zu Freunden, ich lebe intensiver", sagt Jule. Und trotzdem ist es mit HIV manchmal wie mit Jules Tabletten: im Grunde nicht dramatisch. Aber gerade so ein Stückchen zu groß, um beim Schlucken nicht doch mal zu kratzen.

Ich habe gedacht: Mein Blut ist eklig.
Jule

"Das Bild von HIV in der Öffentlichkeit ist in den 80ern stehen geblieben", sagt Jule. Dabei ist seit 2008 bereits wissenschaftlich unumstritten, dass die Medikamente jede Übertragung verhindern. Jules Freund*innen sind überwiegend Akademiker*innen, sexuell offen und informiert. Trotzdem ist der erste Gedanke, der einer Freundin durch den Kopf schießt, als Jule ihr von der Infektion erzählt: Jule muss sterben. Jule muss viel erklären, viel Aufklärungsarbeit leisten, die anderswo vergessen wurde. Das klappt eigentlich gut, nach der Infektion hat sie angefangen, sich mit Sexualpädagogik zu beschäftigen; heute klärt sie beruflich auf, es macht ihr Spaß. "Die Infektion schafft auch Identität", sagt Jule.

Dating mit HIV

Das Dating aber hat es nicht leichter gemacht. Als wäre das mit Mitte 30 nicht kompliziert genug. Jule benutzt Datingapps. Sie sucht, wie viele in ihrem Umfeld, nicht unbedingt nur nach der einen großen Liebe, Haus, Garten, Jochen-Schweizer-Erlebnisgutscheinen. Es darf und soll auch vieles zwischendrin möglich sein dürfen, vielleicht auch gleichzeitig. "Ich weiß nicht, ob ich mich poly nennen würde", sagt Jule und lacht. "Ich mag einfach menschliche Nähe sehr."

Aber anders als bei Datingapps für Homosexuelle, etwa Grindr, ist es bei Tinder, OKCupid und Co nicht üblich, das sogenannte Schutzverhalten im Profil anzugeben. Das Schutzverhalten erklärt, ob und wie man sich und den*die Partner*in vor HIV-Übertragung schützt. Homosexuelle Männer haben einen ganz anderen Wissensstand, sie sind die am besten aufgeklärte Gruppe in Deutschland. Beim Bier am Tresen wird offen über Lust, persönliche Vorlieben und Safer Sex gesprochen. Für Jule und jede andere der ca. 17.000 HIV-positiven Frauen in Deutschland (von insgesamt 86.000 Menschen deutschlandweit) ist es ein Schritt in die Tabuzone.

Das Bild von HIV in der Öffentlichkeit ist in den 80ern stehen geblieben.
Jule

"Die Leichtigkeit beim Daten geht verloren", sagt Jule. Nach dem Cappuccino liegt neben der Rechnung ein Sterblichkeitsmemo to go auf dem Tablett, wer will das schon? Obwohl Jule nicht ansteckend ist und man ihr die Infektion nicht ansieht, möchte sie das Wissen um den Virus niemandem verschweigen, mit dem sie mehr Zeit verbringen will als eine Nacht. Sie muss sich sehr früh überlegen, ob sie einem Mann irgendwann näherkommen möchte, ob sie sich etwas für länger vorstellen kann. Und mit dem Gespräch über die Infektion zieht eine Schwere ein, die Schmetterlinge im Bauch erstmal auf Eis legt.

Ganz anders sei das bei HIV-positiven Männern: Die gewännen manchmal sogar noch an Dating-Punkten, erzählt Jule. "Das ernste Thema stellt Nähe her, und Frauen fühlen sich geschmeichelt von der Offenheit." Andersherum schwingt noch immer das Stigma der sogenannten unreinen Frau mit, gerade so, als hätte die Infektion etwas damit zu tun, mit wie vielen Partner*innen man geschlafen hat. AIDS-Aufklärung gibt es seit über 30 Jahren. Frauen nicht nur irgendwie mitzumeinen, sondern für Frauen gesondert etwas zu tun, dazu ist es allerhöchste Zeit. Seit 2019 sorgt die Kampagne "Kein AIDS für alle – bis 2020!" gezielt in gynäkologischen Praxen für Information. Über 30 Jahre hinter der Zeit, aber immerhin. Ein Schritt raus aus der Tabuzone. Und weg von der Geheimniskrämerei.