Bei einer neuen Dating-App für Schwule gibt’s statt Selfies erstmal ein Foto vom Penis. Was anfangs ungewohnt war, wurde irgendwann erschreckend normal. Ein Selbstversuch.

Eigentlich hasse ich Dating-Apps. In einer Gesellschaft, in der das direkte Gespräch mit Menschen, denen man zufällig begegnet, immer seltener wird, sind sie nichts mehr als ein notwendiges Übel. Und ich fand Dickpics immer scheiße. Selten ästhetisch, oft eher abtörnend – nicht nur, weil sie meist ungefragt kommen. Jetzt ist beides anders – ja, ich würde fast sagen, ich habe Gefallen an Dickpics gefunden!

Vor etwas mehr als einer Woche habe ich mich bei Stndr angemeldet, einer neuen Dating-Website für schwule und bisexuelle Männer – und ja, der Name kommt von "Ständer". Was das Prinzip schon ganz gut auf den Punkt bringt: Stndr funktioniert ziemlich genau so wie Tinder – nur halt mit Dickpic. Wenn gefällt, was man sieht, wischt man nach rechts, und wenn nicht, nach links. Und wenn jemand meinen Penis genauso gerne mag wie ich seinen, gibt’s ein Match – und wir können nicht nur miteinander chatten, sondern sehen zum ersten Mal das Gesicht des anderen.

Das erste selbst gemachte Dickpic meines Lebens

Die Hürde für eine Anmeldung ist gering: Um sich zu registrieren, muss ich erst mal nur meine E-Mail-Adresse angeben. An die wird dann ein Code verschickt, mit dem man sich schließlich anmelden kann, denn noch ist Stndr in der Closed-Beta-Phase. Dann kann man zwischen 21 Städten wählen, deren Ständer man sich anschauen möchte, deutsche Städte genauso wie London, New York oder Moskau.

Deutlich größer war die nächste Hürde, zumindest für mich. Denn hatte ich es vorher immer vermieden, meinen Penis für irgendwen zu fotografieren, ist das bei Stndr natürlich unverzichtbar.  Also habe ich das erste Dickpic meines Lebens gemacht – das jetzt für jedermann zu sehen ist. Wenn schon, denn schon!

An einem Tag sah ich so viele Schwänze wie noch nie

Das Dickpic ist aber nicht das einzige Kriterium für einen Swipe nach links oder rechts – also zumindest bei mir. Unter jedem Foto wird das Alter, die Stadt, das Gewicht, die Größe, die sexuelle Position (aktiv, passiv oder beides) und die eigene Penislänge in Zentimetern angezeigt. Vor einer Überprüfung von einer neutralen Stelle muss man allerdings keine Angst haben. Was vielleicht auch ein Nachteil ist, denn bei vielen Schwänzen glaube ich kaum, dass die Länge stimmt, nicht nur im Vergleich zum Bild. Der erigierte Durchschnittspenis ist laut einer britischen Studie etwa 13,12 Zentimeter lang – dort wurde die Länge von medizinischem Personal gemessen. Bei Stndr hat kaum jemand weniger als 16 Zentimeter. Vielleicht melden sich aber auch nur gut bestückte Männer an? Ich bezweifle das stark.

Mein erster Tag bei Stndr bringt mein erstes Match – und die erste Enttäuschung. Denn obwohl auf dem Bild sogar zwei Penisse zu sehen waren, bleibt der Chat stumm. Also mache ich weiter – und sehe an einem Tag so viele Schwänze wie noch nie zuvor in meinem Leben: große, kleine, dicke, dünne, krumme, gerade, mit Piercing, ohne Piercing, beschnitten, nicht beschnitten und selten auch mal nicht erigierte. Und ich finde es toll! Denn Stndr schafft Transparenz bei einem Thema, das – gerade für schwule Männer – mit vielen Tabus belegt ist.

Stndr könnte eine soziale Sprengkraft entwickeln

In meiner Pubertät, aber auch noch danach hatte ich selbst lange Angst, an meinem Penis könnte irgendwas nicht stimmen – weil er nicht so aussah wie der Standard-Schwanz aus dem Biologie-Buch. Die Vielfalt auf Stndr zeigt: Alles ist in Ordnung, alles ist normal. Insofern könnte die App eine gewisse soziale Sprengkraft haben: In einer Welt, in der auf Apps wie Grindr und Gayromeo jeder Zweite schreibt, seine Penisgröße wäre XL oder XXL, gibt es hier konkrete Werte – und auch gleich die Bilder, die es (zumindest im groben Maße) überprüfbar machen.

Das ist auch ein Anliegen der Erfinder von Stndr: "Alle gucken Pornos und glauben, ein Riesending haben zu müssen – und sind deshalb im echten Leben verunsichert. Bei uns sehen sie echte Schwänze, große wie kleine."

Hinter der App steckt "ein wilder Haufen von insgesamt acht Jungs", schreiben sie mir per Mail – übrigens nicht alle schwul oder bisexuell. Sie sind Entwickler, Studenten oder ganz frisch exmatrikuliert und kommen aus Berlin, Köln, Mailand, Münster, Moskau, Teheran und Tel Aviv.

Der jüngste ist 23, der älteste Mitte 40, und alle wollen anonym bleiben: "Weil wir Verwandtschaft haben, und die Omi ist halt noch nicht restlos sexuell befreit." Außerdem verdienen die Macher mit Stndr kein Geld: "Und im richtigen Job würde das zu vielen Fragen führen." Trotz der Anonymität: Treffen könne man einige der Männer hinter Stndr trotzdem – auf ihrer eigenen App.

Keine Enttäuschung, wenn der Penis nicht gefällt

Die Idee für Stndr kam ihnen auf anderen Dating-Plattformen wie Gayromeo, Tinder oder Grindr. Sie seien "extrem von der Scheinheiligkeit" dort genervt gewesen, denn: "Da wird rumgeseuselt und mit oberflächlichen Floskeln durch die Chats geschleimt, und in Wirklichkeit geht’s doch meist ohnehin um … naja, jedenfalls ganz selten um die große Liebe."

Dabei würden auf den gängigen Apps doch viele genau danach suchen. Sicher eine diskutable These. "Das läuft dann aber so ab, dass man auch ohne sexuelle Interessen ganz schnell ungefragt ein Schwanzbild zugeschickt bekommt. Das ist Belästigung. Wir dachten: Wer sich bei uns anmeldet, weiß, worauf er sich einlässt." Und dass das wirklich so sei, machen sie auch an einer Sache fest: "Bis jetzt gab’s noch keine Beschwerde wie ‚Guck mal, der Perversling hat mir ein Bild von seinem Gesicht geschickt!‘"

Ganz im Gegenteil: Manche Nutzer fänden es sogar befreiend, auf Stndr zu sein – denn dort sei von Anfang an klar, auf was sich der andere sexuell einlässt. So gäbe es keine Enttäuschung und kein Selbstbewusstseinsstress, nach dem Motto: "Wenn dir mein Schwanz nicht gefällt, swipe doch einfach weiter!"

Sind da also nur hässliche Menschen? Nö.

Die meisten Nutzer der App – etwas mehr als ein Drittel – sind zwischen 25 und 34 Jahren alt, die zweitgrößte Gruppe – etwas weniger als ein Drittel der Nutzer – ist zwischen 18 und 24. Wie im Internet generell gilt auch bei Stndr: Je älter, desto weniger angemeldete User. Und natürlich sind da nicht nur hässliche Menschen: von meinen etwas mehr als zehn Matches gefallen mir vier ziemlich gut (also sowohl die Gesichter als auch die Penisse) und normalerweise gelte ich in meinem Freundeskreis als sehr wählerisch.

Wie mir geht es aber nicht allen: Jerome* ist 27 und aus Berlin. Ein Freund hatte ihn auf Stndr aufmerksam gemacht, angemeldet ist er seit etwas mehr als einer Woche. Das Konzept findet er lustig, "noch dümmer als Tinder", sagt er und lacht. Um dann ernüchtert hinterherzuschieben: "Die meisten Kontakte waren leider eher negative Überraschungen – also vor allem das Gesicht. Und deshalb habe ich mich auch mit keinem getroffen." Erhofft hatte er sich eigentlich "entspannte, lustige Chats und eventuell auch Treffen – man hat die Hose ja schon heruntergelassen, im wahrsten Sinne des Wortes!" Aber Jerome hat für sich festgestellt: "Das ist nicht meine Art, zu daten. Letztendlich ist mir das Gesicht deutlich wichtiger als der Schwanz."

Noch lange nicht alles ist perfekt

Für Dustin* ist Stndr durchaus ein Weg, Dates zu finden. Der 23-jährige aus Leipzig erhofft sich von der Plattform schlicht und einfach "Sex, aber ich bin auch offen für mehr". Über die App getroffen hat allerdings auch er noch niemanden. Die Erlebnisse dieser zwei stehen durchaus in Kontrast zu dem, was die Stndr-Macher an Feedback bekommen: "Unsere echten Nutzer feiern die App richtiggehend ab. Wir bekommen ständig Anfragen, zusätzliche Städte freizuschalten oder bestimmte Funktionen zu optimieren."

Funktionen optimieren – das würde auch ich den Machern dringend empfehlen. Weil Stndr keine App ist, sondern letztendlich einfach eine Webseite, gibt es beispielsweise keine Push-Benachrichtigungen bei neuen Nachrichten. Das macht Konversationen nicht unbedingt schneller. Auch sieht man nicht, wer gerade online ist. Für schnelle, unkomplizierte Dates, die die Macher ja eigentlich wollen, ist das also nichts. Außerdem kann man noch keine Bilder, Videos oder Sprachnachrichten verschicken – wenn also zum Beispiel ein Gesicht nicht so gut zu erkennen ist, muss man doch wieder auf die üblichen Apps zurückgreifen.

Was Stndr aber besser können will als die Platzhirsche: sensibel mit den Daten der Nutzer umgehen. "Datenschutz wird bei uns großgeschrieben", betonen die Entwickler. So werden Chats nach 24 Stunden gelöscht, auch die User können sie dann nicht mehr sehen. Und man muss nur einen Nutzernamen angeben, seinen echten kann man für sich behalten.

Es gab auch eine unangenehme Begegnung

Und dann war da doch noch eine Sache, die hätte echt nicht sein müssen:  ein Penis, der mir gut gefallen hatte, ein anschließendes Match – und ein kleiner Schock beim Blick aufs Profilbild. Denn: Das Foto zeigte einen guten Freund von mir, den ich noch nie nackt gesehen hatte, und schon gar nicht mit einer Erektion – geschweige denn er mich. Panisch suchte ich nach einer Möglichkeit, das irgendwie rückgängig zu machen, bevor er es mitbekommt. Und fand sie zum Glück: Jedes Match kann jederzeit wieder von einer Seite aufgelöst werden. Trotzdem hatte ich danach irgendwie noch ein schlechtes Gewissen. Aber nach einem Telefonat mit der besten Freundin war das auch wieder vergessen. Sie meinte nur: "Ihr findet Euch beide auch untenrum schön – das ist doch etwas Wunderbares!"

Trotz dieses eher semi-geilen Matches und trotz der Tatsache, dass noch kein Treffen oder gar Sex für mich rausgesprungen ist: Ich bin Fan von Stndr. Denn: Gute, ästhetische Penis-Bilder werden dort belohnt, schließlich wischt man dann eher nach rechts. Trotzdem sollte man von Stndr nichts Übernatürliches erwarten. Das, was andere Dating-Apps so ätzend macht – das ewige Warten auf eine Antwort, Ghosting oder Matches, die von der anderen Seite wieder gelöst werden – gibt es auch hier. Und Treffen entstehen auch nicht so spontan, wie man sich das für Sex vielleicht manchmal wünscht. Aber dafür kann vielleicht Stndr gar nicht so viel, sondern vielmehr die Menschen, die es nutzen. Und die können sich ja ändern. Und wer weiß: vielleicht sagen dann in ein paar Jahren irgendwo in Deutschland zwei Männer bei ihrer Hochzeit: "Weißt Du noch, wie wir uns damals auf Stndr kennengelernt haben?" Ich würde es feiern!

* Namen geändert