Es ist Donnerstag. Ich sitze mal wieder in einer dieser Einführungsvorlesungen eines Professors, der sich eines Vokabulars bedient, das alle Erstsemestler*innen in tiefe Verzweiflung stürzen lässt. Ich – im fünften Fachsemester – kann mittlerweile nur noch schmunzeln: Möchte er sich mit dieser Wortwahl als allwissender Mann profilieren oder die Erstis tatsächlich auf ihre weitere, harte Studiumslaufbahn vorbereiten?

Zum Ende der Stunde – die Studierenden schauen schon regelmäßig auf ihre Uhren – fordert der Dozent zur Diskussion auf und wirft eine Frage in den Raum. Niemand meldet sich. Niemand möchte das Risiko eingehen, sich seinen sicher folgenden Widerworten stellen zu müssen. Niemand will sich vor dem Plenum blamieren. Auch ich habe mich bisher nie gemeldet – obwohl ich hin und wieder gerne eine Frage oder einen Kritikpunkt eingebracht hätte. Und warum? Weil ich Angst habe. Angst vorm Scheitern, Angst vor Spott, Angst vor dem Schamgefühl und Angst, verletzt zu werden. Obwohl ich im verdammten fünften Fachsemester bin und mich als emanzipierte Frau verstehe.

Verletzlichkeit hat in der Gesellschaft keinen guten Ruf

Dieses banale Beispiel lässt sich auf viele Situationen im Leben übertragen: Sei es, ein unangenehmes Thema bei Partner*innen anzusprechen, eine Beziehung zu beenden oder sich beruflich selbstständig zu machen. Indem wir allen Hürden und Risiken weichen und den leichten Weg gehen, bewahren wir uns vermeintlich unsere Unverwundbarkeit. Aber das geht "auf Kosten unserer eigenen Lebendigkeit", schreibt die amerikanische Autorin Brené Brown in ihrem Buch Daring Greatly: How the courage to be vulnerable transforms the way we live, love, parent and lead.

Die Professorin an der University of Houston ist Pionierin in der Forschung über Verletzlichkeit, Scham und Authentizität. Seit 17 Jahren untersucht sie, wie wir diese Gefühle verstehen und uns aus den Zwängen der Norm befreien können: Wie lernen wir, unsere Verletzlichkeit und Unvollkommenheit zu akzeptieren, damit wir mit mehr Würde und Authentizität durch unser Leben gehen können?

Ihren Durchbruch hatte die Wissenschaftlerin 2010 mit ihrem Auftritt bei einem TED-Talk in Houston. Auf YouTube zählt ihr Video heute bereits mehr als fünf Millionen Klicks.

Brown fand durch ihre Studien heraus, dass die Gesellschaft Verletzlichkeit sehr negativ wahrnimmt. Sich verletzlich zu zeigen bedeute, sich zu entblößen und schwach zu sein. Das ist jedoch ein Trugschluss, meint Brown, denn: "Verletzlichkeit und Schwäche sind nicht dasselbe!" Aufgrund dieser Fehldeutung bietet die Gesellschaft keinen Raum dafür, ehrlich mit der eigenen Vulnerabilität umzugehen. Die Folge: Es gehört sich nicht, sich verletzbar zu zeigen. Also unterdrücken wir es.

Irrtum der Verletzlichkeit

Aber was ist denn genau Verletzlichkeit und wie kann ich sie zulassen? Wenn wir jemandem begegnen, ist Verletzlichkeit laut Brown das Erste, was wir in unserem Gegenüber suchen. Und das Letzte, was wir unserem Gegenüber offenbaren möchten. Das bewegt uns dazu, bestimmte Schutzmechanismen zu entwickeln, die uns vor den Blicken anderer bewahrt. Diese sagen viel über uns selbst und das Maß unserer Unsicherheit aus.

Wenn ich beispielsweise schlecht über andere Verhaltensweisen oder Äußerlichkeiten spreche – "Dass der im Seminar immer so viel labern muss" oder "Guck mal, wie schrecklich dünn der ist!" – ist das oft ein Zeichen meiner eigenen Schwäche. Weil ich mich vor Häme schützen möchte, sage ich im Seminar kein Wort und mache andere schlecht, die sich trauen. Nur, weil ich mit meiner Figur unzufrieden bin – oder Angst davor habe, als hässlich zu gelten – verurteile ich andere Figuren.

Der erste Schritt ist es, sich dessen bewusst zu werden. Was sind meine Mechanismen? Wo bin ich besonders verletzbar? Wie unterdrücke ich das?

Wagt wieder Großes!" – Brené Brown

In einem Interview mit der Welt sagte Brown: "Verletzlichkeit ist der Schlüssel zu allem, von dem wir mehr wollen: Freude, Intimität, Liebe, das Gefühl von Zugehörigkeit, Vertrauen. Gleichzeitig sind wir nicht bereit, die Rüstung abzulegen und zu zeigen, wer wir wirklich sind, unsere Ängste und Träume, weil wir fürchten, man könne all das als Munition gegen uns verwenden."

Verletzlichkeit zulassen bedeutet, sich selbst näher zukommen und ehrlich mit sich und seinem Umfeld zu sein. Es mag erstmal nicht einfach sein, seinen Emotionen in Beziehung zu sich und anderen mehr Raum zu geben. Es erfordert viel Konfrontation. Aber es öffnet eben auch Türen. Wenn jemand seine Bedürfnisse freier äußern kann, dann ist die Chance auch größer, dass sich etwas ändert.

Salopp gesagt heißt das: Hab mehr Mut dazu, Risiken einzugehen! Denn Verletzlichkeit zeigen macht mutig. Sag als erste*r in einer Beziehung "Ich liebe dich", auch wenn es uncool ist. Stell im Seminar vermeintlich dumme Fragen. Gib ehrliche Komplimente. Gib auf, wenn die Ressourcen alle sind. Unser größter Gegner dabei ist die Scham, meint Brown. Die gelte es zu besiegen.

Das nächste Mal, wenn ich Seminar sitze, werde ich etwas sagen. Ganz sicher.