In der nahen Zukunft zählt nur noch der Rang in der Gesellschaft. Wer hier weit unten steht, hat schlechte Karten. Um aufzusteigen, genügt es aber nicht, guten Willen zu zeigen oder sich besonders ins Zeug zu legen. Oft hilft nur noch der Schacht. Hier kann sich jede*r für eine vorher festgelegte Zeit einsperren lassen – um nach der Entlassung etwa eine Straftat aus dem eigenen Lebenslauf getilgt zu bekommen oder einfach einen Doktortitel zu erhalten.

Letzteres hat Goreng (Iván Massagué) vor. Er erwacht in seiner kargen Zelle und wird vom zwielichtigen Zellennachbarn, dem deutlich älteren Trimagasi (Zorion Eguileor), über die Regeln des Schachts aufgeklärt. Es ist im Grunde ein Gefängnis mit nummerierten, quasi gestapelten Zellen in unbekannter Anzahl, die alle durch ein großes Loch in der Mitte vertikal verbunden sind. Hier kommt einmal am Tag eine Plattform heruntergefahren, auf der sich feinste Speisen befinden. Sie startet auf der obersten Ebene und fährt dann weiter nach unten – jede*r darf sich für einige Minuten so viel zu essen nehmen wie gewünscht. Dann fährt die Plattform weiter nach unten.

Was passiert, wenn Lebensmittel knapp sind

Goreng und Trimagasi sind auf Ebene 48, aber das nur einen Monat. Danach werden die Etagen willkürlich gewechselt, die Zelleninsassen wachen machtlos entweder höher oder eben noch tiefer im Schacht auf. 48 sei also gar nicht so schlecht, sagt Trimagasi, der sich auf die Plattform mit Essen stürzt und am Ende noch auf die herabfahrenden Reste spuckt. Goreng ist angewidert: Warum tut er das? Die da oben würden es ja genauso machen. Trimagasi lacht Goreng zudem noch aus, weil er als einzigen erlaubten Gegenstand ein Buch mit in die Zelle genommen hat: Don Quijote von Cervantes. Trotzdem raufen die beiden sich irgendwie zusammen.

Jedenfalls bis der Monat vorbei ist. Denn danach wachen die beiden auf Ebene 171 auf. Von den spärlichen Essensresten auf der Plattform sind so weit unten nur noch abgenagte Knochen und ungenießbarer Müll übrig. Goreng hat allerdings andere Sorgen: Trimagasi hat ihn ans Bett gefesselt und kündigt an, von seinem eigenen persönlichen Gegenstand Gebrauch zu machen, einem Messer. Damit will er nach einigen Tagen, wenn der Hunger zu groß wird, von Goreng Stücke abschneiden und sie verspeisen. Er sei aber kein Unmensch: Auch Goreng soll von seinem eigenen Fleisch etwas abbekommen, um zu überleben. Im nächsten Monat könne schließlich alles schon wieder auf einer höheren Ebene ganz anders aussehen.

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Das Langfilmdebüt des Spaniers Galder Gaztelu-Urrutia ist kein Torture Porn à la Saw, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Vielmehr zeigt der Sozialthriller als dystopische Vorstellung in harter und ekelhafter Weise die dunklen Seiten einer Gesellschaft ohne jegliche Solidarität auf. Schon der Aufbau und die Symbolik sind wenig subtil, aber in Zeiten der weltweiten Corona-Krise irgendwie doch plausibler als gedacht. Wenn wir sehen, wie sich unauffällige Bürger*innen plötzlich bei Hamsterkäufen um einen Jahresvorrat an Klopapier prügeln oder Schutzmasken gestohlen und dann für horrende Preise weiterverkauft werden, drängt sich die Frage auf: Was wäre in härteren Krisenzeiten los? Wenn etwa ein zu 100 Prozent tödliches Virus umgehen würde?

Nicht zuletzt deshalb hat wohl der Netflix-Release des Filmes für Furore gesorgt und den Schacht auf Platz eins der deutschen Streaming-Hitliste gebracht. Unter anderen Umständen wäre er wohl kaum von so vielen Menschen angesehen, so oft empfohlen oder besprochen worden. Das auch nicht zu unrecht: Der Schacht ist zweifellos ein morbid-spannendes Kammerspiel, das an ähnliche Horrorszenarien wie etwa Cube (1997) erinnert. Reizvoll an dem Film sind vor allem die Diskussionen, die sich zwischen den Quarantänepartner*innen ergeben. Auf die große Frage, wie denn nun umzugehen ist mit der Ungerechtigkeit im Schacht, gibt der Film eine etwas enttäuschende, weil sehr einfache Antwort: Wenn jede*r nur so viel nimmt, wie er*sie wirklich braucht, ist für alle genug da.

Der endlose Kampf gegen die Windmühlen der Angst

Natürlich hat Goreng Don Quijote dabei: Ist der endlose Kampf gegen Windmühlen letztlich als Symbol des Widerstands gegen den Kapitalismus zu verstehen? Fragwürdig, denn in die Gefangenschaft begibt sich hier jede*r freiwillig aus oft fragwürdigem Eigeninteresse. Den Standpunkt der Figur Trimagasi würden in Notsituationen wahrscheinlich dennoch viele einnehmen: Erst das Fressen, dann die Moral, wie es in Bertolt Brechts Dreigroschenoper so "schön" heißt.

So widerlich Trimagasi gezeichnet wird, hatte er doch zu Beginn seiner Zellenkarriere ähnliche Prinzipien wie Goreng, die letztlich korrumpiert wurden. Trimagasi hat durch seine Erfahrungen auf den untersten Ebenen der Schachtgesellschaft kein Mitgefühl gelernt, sondern es hat nur die Angst vermehrt, selbst irgendwann wieder zu kurz zu kommen. Mehr ist die Devise, immer nur mehr, und die Furcht der wohl stärkste Motor hinter der Maßlosigkeit.

Wer die Idee bekommt, dass doch alles mit etwas Kommunikation lösbar wäre – schließlich können die Menschen der unmittelbar angrenzenden Ebenen durch den Schacht miteinander reden –, bekommt auch darauf von Regisseur Gaztelu-Urrutia eine Antwort. Goreng versucht natürlich, an die Vernunft zu appellieren, findet aber kein Gehör. Die in den oberen Ebenen scheißen auf jene in den unteren, und das in manchen Szenen wortwörtlich.

Jedwede Gewalteskalation, die auch wir schonungslos gezeigt bekommen, wird von der Schachtverwaltung geduldet. Sie greift nicht ein, jede*r ist sich selbst überlassen. Ein weiterer Hinweis darauf, wie wichtig wohl in vergleichbaren Situationen eine Regierung ist, die die Schwachen nicht vergisst, fernab von BIP und Schwarzer Null. Und dass echte, gelebte Solidarität in der Gesellschaft über das Applaudieren vom Balkon aus für Supermarktkassierer*innen oder Dankesplakate an Krankenhausangestellte hinausgehen muss – auch wenn gerade keine Pandemie droht. Der Schacht muss nicht bittere Realität werden.

Außerdem auf ze.tt: Diese Illustrationen zeigen, was der Kapitalismus aus uns macht