Zur 69. Berlinale in Berlin stellen wir euch Kurzfilme und Dokumentationen vor, die gesellschaftliche Strukturen hinterfragen, Minderheiten Sichtbarkeit geben und zum Nachdenken anregen. Die Übersicht aller Beiträge findet ihr hier.

Der Film ist weltweit ein von Männern dominiertes Medium. Das zeigt sich beispielsweise bei den Academy Awards: In den nicht ans Geschlecht gekoppelten Kategorien sind in diesem Jahr lediglich 25 Prozent der Oscar-Nominierten weiblich. Oder es zeigt sich beim Beschäftigungsverhältnis in der Branche: Pro Quote Film gibt an, dass bei deutschen Produktionen lediglich im Kostüm mehr Frauen als Männer arbeiten.

Dieses Verhältnis der Geschlechter hat Einfluss auf das Storytelling. Filmgeschichten werden häufig aus einer männlichen Perspektive erzählt; das fällt spätestens in den Sexszenen auf. Meist ruht die Kamera längere Zeit auf dem Frauen- als auf dem Männerkörper. Für die Handlung ist er kaum relevant, sondern eher ein visuelles Spektakel.

Die Gegenbewegung zur männlichen Perspektive im Film nennt sich Female Gaze. Dabei handelt es sich um einen weiblichen Blick auf das Geschehen aus Sicht einer Filmemacherin. Russian Doll auf Netflix, Lena Dunhams Girls oder The Handmaid's Tale sind Beispiele für Serien mit weiblichem Blickwinkel – insbesondere auf Sex.

Auch Irene Moray macht Filme, die sich dem Female Gaze zuordnen lassen können. Nun feierte ihr Kurzfilm Suc de síndria (auf Deutsch: Wassermelonensaft) bei der Berlinale Premiere; und die spanischen Filmemacherin beweist in ihrem 22-Minüter einmal mehr eine emotionale, sensible Herangehensweise an Sexszenen. Dass die Szenen in diesem Kurzfilm besonders sensibel ausgestaltet sind, ist einerseits dem ernsten Thema geschuldet: Die Protagonistin verarbeitet ein traumatisches Erlebnis. Darüber hinaus liegt Morays Arbeit aber auch generell ein anderes Verständnis zugrunde als in den meisten Hollywood-Filmen. Sie lege Wert darauf, Sex auf eine "ehrliche, intime und realistische Weise" zu zeigen, sagt sie.

In Suc de síndria befinden sich Bàrbara und Pol im Urlaub. Sie liegen im Bett ihres Ferienhauses, die Gesichter einander zugewandt, als wären sie in ein Gespräch vertieft. Doch statt zu sprechen, atmen die zwei schwer. Ihre Körper stecken bis zu den Schultern unter der Bettdecke. Was ihre Hände darunter tun, lässt sich nur erahnen. Irgendwann rollt Bàrbara sich auf den Rücken und sagt, sie brauche eine Pause.

Die zweite Sexszene führt das Paar an einen Badesee. Sie sitzen nackt auf ein paar Steinen in der Sonne, erneut sind nur ihre Oberkörper zu sehen. Pol hat die Augen geschlossen; Bàrbara beobachtet lächelnd, wie sein Seufzen intensiver wird, bis er schließlich kommt. In der dritten Szene liegen beide wieder im Bett. Nur kurz ist zu sehen, wie Pols Hand sich langsam zu ihrem Slip hinabtastet. Der Fokus liegt auf Bàrbaras Gesicht.

Sex darf auch unbeholfen aussehen

Irene Moray visualisiert Sex, ohne dass er zum klischeebehafteten Spektakel wird. In Suc de síndria ist diese Herangehensweise essenziell für die Handlung: Das Paar muss behutsam miteinander umgehen, um Bàrbaras Verhältnis zu Sex zu heilen. Aber auch in Morays anderen Arbeiten legt die Filmemacherin Wert darauf, die Körperlichkeit ihrer Protagonist*innen zu vernachlässigen und die Beziehungen zwischen ihnen in den Vordergrund zu stellen. Dafür setzt sie ein bestimmtes Detail ins Zentrum ihrer Szenen: "Das Atmen ist essenziell", sagt sie. "Es ist ein Weg, um füreinander präsent zu sein. Ich dachte, das wäre interessanter als alles andere, was wir sehen könnten."

Sex darf auch ein bisschen unbeholfen aussehen. Weil Sex manchmal eben so ist.
Irene Moray

Hollywood-Filme verklären Geschlechtsverkehr oft zum perfekten sinnlichen Event, sind sind fast schon ein Sport. In Pretty Woman haben Vivian und Edward Sex auf einem Klavier, ohne dass es lächerlich aussieht; in Titanic erleben Rose und Jack in einem Auto auf Anhieb fantastischen Sex; kein James Bond-Film kommt ohne Szenen aus, in denen perfekte Körper nackt aufeinander liegen und sich zur Ekstase befördern.

Bei Moray ist das anders: "Ich mag es, wenn Sexualität etwas Flexibles und immer Wandelbares ist", sagt sie. Dabei muss Sex nicht immer gleich Penetration bedeuten. "Ich mag es, wenn Sex auf unterschiedliche Weise gezeigt wird: Als etwas Spirituelles, Lustiges oder Verrücktes." Wichtig ist ihr, Diversität abzubilden sowie das weibliche Vergnügen darzustellen Der Orgasmus ist Moray hingegen egal – bei ihr ist der Weg das Ziel. Und der muss nicht perfekt sein. "Sex darf auch ein bisschen unbeholfen aussehen", sagt Moray. "Weil Sex manchmal eben so ist."