Am 17. Juni 1953 protestierten Hunderttausende Menschen in der DDR für Freiheit und Demokratie. Sie scheiterten mit ihren Forderungen. Doch ihren Mut sollten wir trotzdem nicht vergessen. Ein Kommentar

Juli 1952, eine Sporthalle in Prenzlauer Berg, Ost-Berlin: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) beschließt, dass von nun an der planmäßige "Aufbau des Sozialismus" die "grundlegende Aufgabe" wäre – ein Kurs, der zuvor von der Sowjetunion unter Stalin "empfohlen" (beschönigend für vorgeschrieben) worden war.

In den kommenden Monaten baut die DDR-Regierung die Armee aus, enteignet den Mittelstand, kollektiviert die landwirtschaftlichen Betriebe und bekämpft die Kirche. Um der Wirtschaftskrise im Land entgegenzusteuern, werden für Arbeiter*innen die Arbeitsnormen (die für den Lohn zu erbringende Arbeitsleistung) um zehn Prozent erhöht, was faktisch einer Lohnsenkung gleichkommt.

Die Folgen: Die Versorgung der Bevölkerung mit Butter, Milch, Fleisch und anderen Grundnahrungsmitteln verschlechtert sich zunehmend. Zwischen Juli 1952 und April 1953 fliehen fast 300.000 Menschen in den Westen. In derselben Zeit verdoppelt sich die Zahl der politischen Gefangenen auf 67.000. In der Bevölkerung brodelt es.

Dann stirbt Josef Stalin am 5. März 1953. Die neue sowjetische Führung hält den bisherigen Kurs für falsch, sie will die Situation in der DDR stabilisieren. Und so verkündigt auch die SED am 11. Juni 1953 eine Abkehr von ihrer radikalen Politik. Besonders der Mittelstand, Bäuer*innen und die Kirche sollen von dem neuen Kurs profitieren – die Normerhöhung für die Arbeiter*innen bleibt jedoch zunächst bestehen. Damit öffnet die Parteiführung die Ventilkappe der mit Unmut angestauten Bevölkerung.

Was ist am 17. Juni 1953 passiert?

Am 17. Juni wird in mehr als 500 Orten gestreikt und demonstriert, die größten Demonstrationszüge finden in Ost-Berlin, Dresden, Halle, Leipzig und Magdeburg statt. Bereits in den beiden Tagen zuvor, war es auf den Baustellen in der Stalinallee (heute Karl-Marx-Allee) in Ost-Berlin ungewöhnlich ruhig gewesen.

Die Bauarbeiter*innen streikten, forderten die Abschaffung der Normerhöhung. Die DDR-Regierung lenkt zunächst ein und gibt bekannt, dass die Normerhöhung zurückgenommen wird. Doch das reicht den Demonstrierenden nicht. "Freie Wahlen" skandieren Tausende am 16. Juni vor dem Haus der Ministerien. Schließlich wird unter Jubel für den 17. Juni der Generalstreik ausgerufen.

Demonstrierende besetzen Regierungsgebäude und Polizeireviere, befreien politische Gefangene. Gefordert werden nicht nur freie Wahlen, sondern auch die Absetzung der Regierung und die deutsche Wiedervereinigung. Gegen 11 Uhr rollen die ersten sowjetischen Panzer in die Innenstadt Ost-Berlins.

Die Sowjets erobern die besetzten Gebäude und Straßen der DDR zurück. Der Ausnahmezustand wird verhängt. Es wird geschossen. Es gibt Tote und Verletzte. Der Aufstand, der als Aufstand der Arbeiter*innen begann, dem sich aber auch viele Angehörige des Mittelstandes, sowie Landwirt*innen, angeschlossen hatten, ist am frühen Abend niedergeschlagen.

Zehntausende werden in den kommenden Tagen verhaftet. Die SED-Führung deklariert den Aufstand später als vom Westen gesteuerten, faschistischen Putschversuch. Heute wird geschätzt, dass sich etwa eine Millionen Menschen an den Protestaktionen beteiligte.

Warum wir den 17. Juni nicht vergessen sollten

Der 17. Juni 1953 steht in der Tradition anderer progressiver Ereignisse, die ebenfalls zunehmend in Vergessenheit geraten: Etwa die Märzrevolution 1848/49, das deutsche Gegenstück zur französischen Revolution, in der Bürger*innen für politische Freiheit und demokratische Reformen kämpften. Oder die Novemberrevolution 1918, die sozialistische Revolution, der wir das Ende der Monarchie und den Beginn der demokratischen Weimarer Republik mit zu verdanken haben. Egal, ob Märzrevolution, Novemberrevolution oder der Arbeiter*innenaufstand am 17. Juni 1953 – all diese Ereignisse sind letztendlich gewaltsam niedergerungen worden, weshalb sie stets mit dem Adjektiv "gescheitert" versehen werden.

Der SZ-Meinungschef Heribert Prantl zitiert in einem Text über den 17. Juni den ehemaligen tschechischen Präsidenten und Menschenrechtler Vaclav Havel: "Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht."

Die Menschen, die am 17. Juni auf die Straße gingen, hatten den Mut, Hoffnung zu haben. Sie hatten den Mut, Widerstand zu leisten. Und hätte es die mutigen Menschen 1848, 1918 und 1953 nicht gegeben, so würden wir heute wahrscheinlich nicht in einem Land leben, das wiedervereinigt ist, in dem es freie Wahlen gibt, in dem die Freiheit des Einzelnen so groß ist, wie noch nie in der Geschichte zuvor.

Die Geschehnisse und die Opfer des 17. Juni sind Teil des Fundaments unserer Freiheit. Und aus diesem Grund sollte dieser Tag wieder ein staatlich vorgeschriebener Feiertag werden. Ein Feiertag kann gesellschaftsprägende, historische Ereignisse adeln und die kollektive Erinnerung konservieren. Insofern würde ein solcher Tag, viel mehr zu unserer modernen Gesellschaft passen, in der Kirche und Staat getrennt sind, als christliche, staatlich verordnete Feiertage.

Bis 1990 wurde in der BRD der 17. Juni als Tag der Deutschen Einheit gefeiert und den blutigen Geschehnissen gedacht. Nach der Wiedervereinigung wurde der Tag auf den 3. Oktober verlegt. Heute wissen immer weniger, warum die breite Straße, die sich in Berlin um die Siegessäule windet und durch den Tiergarten zum Brandenburger Tor führt, Straße des 17. Juni heißt. Schade eigentlich.