"Never kiss a Tory" steht auf dem Aufkleber, der hier in Glasgow an der Ampel klebt. Tories, das sind Mitglieder oder Anhänger*innen der konservativen Partei Großbritanniens. Würde ich so jemanden küssen? Vielleicht. Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich angesichts des Brexits und der Folgen jahrelanger Austeritätspolitik, des Windrush-Skandals und der rassistischen Kommentare von Premierminister Boris Johnson ... Nee. Ich nicke dem Aufkleber kurz zu, bevor ich über die Kreuzung gehe.

Wir leben zweifelsohne in politischen Zeiten und das zeigt sich auch in der Liebe. Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im November 2016 häufen sich Umfragen, Studien und Untersuchungen, die sich mit Politik beim Dating auseinandersetzen.

Ein großer US-Datinganbieter hat unlängst die Nutzer*innen gefragt, wie es denn bei ihnen so mit Politik beim Dating aussieht. Dabei hat sich unter anderem gezeigt, dass Gespräche über das Thema Politik auf der Plattform innerhalb von drei Monaten um 43 Prozent zugenommen haben. Außerdem haben 84 Prozent der Befragten angegeben, dass sie es nicht mal in Erwägung würden, jemanden mit gegensätzlichen politischen Ansichten zu daten; über zwei Drittel haben sogar schon mal eine Beziehung wegen zu unterschiedlicher politischer Einstellungen beendet.

Und der Politikwissenschaftler und Datenanalyst Matthew Easton hat sich das Thema 2019 in seiner Arbeit für die Brigham Young University genauer angeschaut. Seine Schlussfolgerung: "Dating ist politisch und das Zeigen bestimmter politischer Vorlieben wirkt sich auf die Attraktivität von Online-Profilen aus."

Aber warum genau ist das eigentlich so und wie können angehende Paare derartige Differenzen überwinden?

Darum mögen wir Leute, die ähnlich ticken

Wera Aretz ist Professorin für Wirtschaftspsychologie an der Kölner Hochschule Fresenius und forscht unter anderem zu Online-Dating und der Frage, wie das Digitale zwischenmenschliche Beziehungen beeinflusst. Andere zu mögen, weil sie uns ähnlich sind, das sei relativ üblich.

"Die Homophilie-Hypothese besagt ganz allgemein, dass eher Beziehungen zwischen Menschen entstehen, die ähnliche Merkmale aufweisen", erklärt Professorin Aretz. "In verschiedenen Studien ist wiederholt belegt worden, dass Personen mit gleichen oder ähnlichem Bildungsniveau verstärkt dazu neigen, sich in intimen Beziehungen zusammenzuschließen, auch Bildungshomophilie genannt. Ähnliches gilt für die Attraktivität zweier Personen."

Gleich und gleich gesellt sich also grundsätzlich gern; Politik ist da logischerweise keine Ausnahme. Doch wie groß oder klein die Rolle konkret ist, die Politik beim Dating für jede*n einzelne*n spielt, das hängt laut Wera Aretz in erster Linie von zwei Dingen ab.

Erstens sei entscheidend, wie wichtig uns politische Ansichten und Überzeugungen selbst sind. "Ist man politisch sehr aktiv und hat Politik einen hohen Stellenwert im Leben, wird man eher auch die politische Einstellung eines Gegenübers überprüfen. Die Politik nimmt dann also insgesamt einen höheren Stellenwert ein", erläutert die Expertin. Wer viel Zeit und Kraft in die Rettung von bedrohten Wäldern investiert, wird vermutlich Schwierigkeiten haben, das Herz einem*einer passionierten Verfechter*in der Kohleindustrie zu öffnen.

Zweitens: Wie radikal oder extrem sind die Einstellungen der anderen Person? Laut einer aktuellen Studie zum Thema Politik beim Dating gibt jede*r zweite Befragte an, politisch andersdenkende Partner oder Partnerinnen zu tolerieren. "Aber nur, wenn sie keine radikale Partei wählen", sagt Wera Aretz. Je extremer der Unterschied, desto geringer die Dating-Wahrscheinlichkeit. AfD-Wählerin liebt Antifa-Aktivisten? Wohl kaum.

Inwieweit hat sich das verändert?

Das war doch früher alles anders, oder? Nicht unbedingt. So hat mir zum Beispiel eine Freundin erzählt, dass in ihrem Heimatdorf die Kinder von SPD- und CDU-Wähler*innen nicht miteinander gespielt haben. Das war in den 1980ern, lange vor der ersten Großen Koalition. Politik hat Menschen schon immer zusammen- und auseinander gebracht; das hat mit gemeinsamen oder unterschiedlichen Werten und Prioritäten zu tun.

Doch vor allem junge Menschen werden in der Tat zunehmend politisch. "Gerade Jugendliche zeigen mehr Interesse an Politik als noch vor zehn Jahren", sagt Wera Aretz, "das geht aus der Shell Jugendstudie 2019 hervor". Demnach ist das politische Interesse junger Menschen seit 2002 kontinuierlich gestiegen.

Das hängt nicht nur damit zusammen, was auf der Welt passiert – sondern auch, wie und wo darüber berichtet wird. Und Vorbilder und Aktivist*innen wie Greta Thunberg hätten laut Professorin ebenfalls einen Effekt. Außerdem sind es nun mal in erster Linie junge Leute, die idealistischer, aktivistischer und kompromissloser ticken. Nicht nur in der Politik, auch in der Liebe.

Dazu kommt, dass die Spaltung der Gesellschaft langsam immer größer wird – wie Matthew Easton in seiner Arbeit unter Berufung auf Daten des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research schreibt: "Diese Polarisierung verkörpert eine wachsende Abneigung gegenüber Leuten des anderen Lagers und hat in den vergangenen Jahrzehnten allgemein zugenommen."

Wir werden insgesamt also weniger tolerant gegenüber anderen politischen Einstellungen und sind folglich weniger bereit, beim Dating darüber hinwegzusehen.

So geht das mit Politik beim Dating

Liebe ist immer ein Stück weit politisch. Weil die Welt, in der wir leben, nun mal politisch ist und – abhängig vom Grad des Interesses und Engagements – wir selbst damit auch. Deshalb legt eben jede*r für sich fest, welche Rolle Politik beim Dating spielen soll oder auch nicht.

Grundsätzlich sei es laut Matthew Eastons Untersuchung so, dass klar als konservativ gekennzeichnete Profile auf Datingplattformen deutlich weniger gut ankommen. Am beliebtesten seien demnach Profile, in denen die politische Einstellung komplett außen vor bliebe. So lange Politik beim Dating also nicht offen thematisiert wird, können beide so tun, als wäre alles easy.

Deshalb rät Easton Leuten, die sich schlicht mehr Matches wünschen und denen Politik beim Dating nicht so wichtig ist, das Thema einfach wegzulassen.

Andererseits jedoch könnten klar gekennzeichnete politische Ansichten auch als eine Art Filter dienen. Und das kann auch wichtig sein. Weniges ist betrüblicher, als nach tagelangem, vielversprechenden Flirten plötzlich festzustellen, dass am anderen Ende zum Beispiel ein*e Impfgegner*in mit Verschwörungsmythologie-Hintergrund sitzt. Die Entscheidung liegt bei jedem*jeder selbst.

Wer es einigermaßen politikfrei bis zum ersten Date geschafft hat, muss auch da nicht direkt die eigenen Ansichten zu den großen, schmerzhaften Themen unserer Zeit auf den Tisch knallen. "Beim ersten Date ist ja zunächst entscheidend, dass man einen guten Eindruck vom Gegenüber erhält und für sich auslotet, ob er oder sie interessant und für die gesuchte Beziehungsform geeignet ist", sagt Wera Aretz.

Zum einen bekommen beide auch durch andere Gesprächsthemen und Verhaltensweisen einen recht guten Eindruck davon, wie der*die andere insgesamt tickt und ob ein weiteres Treffen infrage kommt. Zum anderen ist auch etwas später noch Zeit für den Austausch von Ansichten. "Aus meiner Sicht lassen sich politische Themen gut auch im weiteren Verlauf der Beziehungsanbahnung thematisieren", meint die Expertin.

Und: Wenn alles andere passt und stimmt, dann kann es einem (angehenden) Paar eventuell gelingen, Argumente und Positionen auszutauschen und zu akzeptieren, dass der*die andere es anders sieht. Ganz vielleicht verändern sich sogar politische Ansichten durch angeregten, respekt- und liebevollen Austausch.

"Es gibt viele Paare, die unterschiedliche politische Ansichten haben und das nicht als tragisch oder belastend erleben. Im Gegenteil: Sie haben Gesprächsthemen und können interessante Diskussion führen", sagt Wera Aretz. "Unterschiede können bis zu einem gewissen Grad eine Beziehung auch bereichern und sogar spannend machen."

Kein Sex mit Nazis

Kurz gesagt: Niemand, der*die nicht will, muss Tories küssen oder Sex mit Nazis haben. Problematisch wird Politik beim Dating dann, wenn Interesse da ist, aber mindestens eine*r sehr klare und für sich selbst wichtige Überzeugungen hat; wenn die Einstellungen diesbezüglich zu weit auseinander klaffen; wenn die beiden abseits von Politik keine Themen finden, bei denen sie sich einig sind und sie auch sonst kaum Gemeinsamkeiten entdecken.

Aber dann sollte man das mit dem Dating wohl grundsätzlich lieber lassen.