Ab und zu werden Notlösungen zu den richtigen Entscheidungen. Wie zum Beispiel bei Caroline Girsemihl. Ihre große Leidenschaft: das Turnen. Weshalb sie nach dem Abitur Sport studieren möchte. Als das wegen einer Verletzung am Fuß nicht klappt, macht sie aus Frust, wie sie selbst sagt, ein Jahr lang Work and Travel in Neuseeland. Während ihrer Arbeit auf einer Biofarm kommt ihr dann der Geistesblitz. "Ernährung und Sport haben für mich schon immer zusammengehört", sagt die 30-Jährige.

Nur wenige Monate nach ihrer Rückreise beginnt die Brandenburgerin ihr Studium in Ernährungswissenschaften. Doch es ist nicht das Richtige für sie. "Ich fand es schnell langweilig, da es eher um die Herstellung und Zusammensetzung von Lebensmitteln ging." Von ihrer damaligen Mitbewohnerin, die in einer Reha-Klinik arbeitet, hört sie das erste Mal von Diätassistent*innen. "Schau dir das doch mal an. Das gefällt dir sicher", sagte sie.

Keinen (guten) Appetit mehr

Manchmal reicht es eben, sich bei der Mitbewohnerin über sein Leben zu beklagen, um es danach so umzukrempeln, dass man es wieder mag. Seit dem Gespräch in der WG-Küche sind vier Jahre vergangen. Heute steht Caroline morgens um sechs Uhr auf und betritt dann gegen sieben Uhr das Humboldt-Krankenhaus in Berlin. Sie streift einen weißen Kittel über und geht ihre Termine durch. In der Regel erwarten sie täglich zwischen sechs und 15 Patient*innenbesuche.

Caroline gehört zu den Diätassistent*innen, die Ärzt*innen nur einschalten, wenn sie selbst keine Antworten mehr haben. "Wir landen bei schwer kranken Menschen, denen wir mit Lebensmitteln oft nicht mehr ausreichend helfen können." Wie Menschen, die zu schnell zu viel Gewicht verlieren, schlechte Blutwerte oder chronische Magen-Darm-Beschwerden haben. Patient*innen, die im Koma liegen, nicht mehr selbstständig Nahrung aufnehmen können und deswegen über die Vene ernährt werden müssen. "Wir berechnen für sie, wie viel Flüssigkeit, Kalorien, Aminosäuren und andere wichtige Nährstoffe in den Beutel müssen, durch den sie dann ernährt werden." Fühlen Patient*innen sich so schlecht, dass sie nichts Festes mehr runterkriegen, muss Caroline sie für Trinknahrung begeistern. Die schmeckt ungefähr wie ein Milchshake, der so süß und dickflüssig ist, dass man ihn im Alltag kaum schaffen würde.

Der Job geht über das Krankenbett hinaus

Ganz ähnlich geht es Sina*. Eine Begleiterscheinung der Chemotherapie ist ihre Geschmacksveränderung, die sie gerade vom Essen abhält. Sie hat keinen Appetit mehr. Bitteres schmeckt bitterer als es tatsächlich ist. Süßes weniger süß und Gewohntes plötzlich fad und langweilig. Außerdem kämpft sie täglich mit ihrer Übelkeit. "Das ist ungefähr wie ein Kater nach einem schlimmen Kneipenabend. Nur das Sina* sich dauerhaft so fühlt", sagt Caroline. Einfache Tricks wie säurehaltige Getränke, die den Speichelfluss und dadurch auch den Appetit anregen, helfen ihr nicht mehr.

Neben der Ernährungseinstellung ist es vermutlich Carolines wichtigste Aufgabe, ihren Patient*innen Mut zu machen und sie von ihrem Druck zu befreien. "Eine Chemotherapie schlägt nur an, wenn die Ernährung stimmt. Deswegen habe viele Angst, was falsch zu machen." Sina* ruft Caroline besonders am Anfang noch täglich an und übergibt ihr die gesamte Verantwortung. Jede Entscheidung darüber, was künftig auf Sinas* Speiseplan steht, trifft also Caroline. Auch, dass da momentan nur "Trinknahrung" steht.

Google-Mythos: No Carb gegen Krebs

Nicht selten geht Carolines Job über das Krankenbett hinaus. "Oft üben auch die Familien der Betroffenen ungewollt und aus eigentlich guten Absichten Druck auf die Patienten aus." Auch sie fürchten sich vor der Zukunft und wollen nicht tatenlos dabei zusehen, wie ihre Liebsten zu viel Gewicht verlieren. Und dann läuft es eigentlich so ab wie in jeder Situation, in der man nach Antworten sucht: Sie durchforsten das Netz. "Dort finden sie dann Mythen wie, dass man durch das Weglassen von Kohlenhydraten, den Krebs aushungern könnte. Das ist natürlich Quatsch."

Oft üben die Familien der Betroffenen ungewollt Druck auf die Patienten aus." – Caroline

Völlig egal, was der Grund für ein Gespräch mit Caroline ist, für sie geht es immer darum, ihren Gegenüber über eine Krankheit aufzuklären, ihre Ängste zu nehmen und Fragen zu beantworten. "Daraus schöpfen sie ihre Motivation weiterzumachen. Denn mein Ziel ist es immer, sie in ihren gewohnten Alltag zurückzubringen."

Das Einmaleins des Kochens

Um sich die nötigen Fähigkeiten anzueignen, müssen Diätassistent*innen eine dreijährige Ausbildung machen. Caroline entscheidet sich gegen eine private und beginnt ihre Ausbildung an der Medizinischen Berufsfachschule der Leipziger Universitätsklinik. Dass der seltene Beruf so überhaupt nichts mit Diäten zu tun hat, merkt sie direkt in den ersten Wochen in der Großküche. Anstatt dem Klischee gerecht zu werden und Low-carb-Diäten auszuprobieren, lernen die Schüler*innen das Einmaleins des Kochens. S0ßen, Bisquit- oder Rührteige hätte sie, wie sie selbst sagt, in dieser Zeit vermutlich mit verbundenen Augen in Rekordzeit anfertigen können.

Ist man dann einmal mit Kochen und Backen vertraut, folgt der Theorieteil: Die Schüler*innen lernen in Fächern wie Anatomie und Physiologie so ziemlich alles über den menschlichen Körper und Krankheitsbilder, die eine Ernährungsumstellung brauchen. Und ganz anders als es das Klischee vorgibt, geht es gerade nicht darum, auf etwas lebenslang zu verzichten. "Das ist in den häufigsten Fällen auch überhaupt nicht möglich", sagt Caroline. So dürfte man bei einer Nierenersatztherapie zum Beispiel kein Kalium mehr zu sich nehmen. "Blöd ist nur, dass das so ziemlich überall drin ist." Deswegen erlernen die Schüler*innen Strategien wie sie Nährstoffe reduzieren können. "Kartoffeln und andere Gemüsearten kann man vor dem Kochen zum Beispiel wässern, um ihnen Kalium zu entziehen."

Zubereitet wird die Nahrung dann meist von externer Catering-Services. "In großen Krankenhäusern wird eigentlich gar nicht mehr gekocht, weshalb man, wenn man gutes Essen haben will, eher kleine Krankenhäuser bevorzugen sollte", sagt Caroline.

Kolleg*innen arbeiten in prekären Beschäftigungsverhältnissen

Sobald sie dann ihr Staatsexamen in der Hand halten, können Diätassistent*innen in Kliniken, Ambulanzen, eigenen Praxen, der Forschung, Kindergärten und sogar als Dozent*innen in Schulen arbeiten. Dass Caroline direkt nach ihrer Ausbildung eine Stelle findet, ist ihr Glück. Dass sie obendrein nach dem bestmöglichen Tarifvertrag für Diätassistent*innen bezahlt wird und knapp 2.500 Euro brutto Einstiegsgehalt verdient, doppeltes Glück. Denn laut dem Verband für Diätassistenten (VDD) landen viele nach ihrer Ausbildung in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder werden arbeitslos. Der Grund für die schlechte Situation auf dem Arbeitsmarkt: Es gibt zu wenig frei werdende oder neue Stellen für Diätassistent*innen. "Seit meinem Abschluss ist es schon besser geworden. Das erkennt man daran, dass mehr Ernährungsfachkräfte gesucht werden und viele Ernährungsteams in Krankenhäusern aufgebaut werden", sagt Caroline.

Oft übernehmen Ärzte und Schwestern unseren Job, obwohl sie sehr selten dafür geschult sind." – Caroline

Bundesweit gibt es nach Angaben des VDDs derzeit 14.000 Diätassistent*innen. Noch nicht genug, um in jeder Klinik einen festen Personalschlüssel einzurichten. "Oft übernehmen Ärzte und Schwestern unseren Job, obwohl sie dafür sehr selten geschult sind und viel aus dem Bauch heraus entscheiden müssen", sagt Caroline. Deswegen fordert der VDD mehr Geld in Ausbildung und Stellen für Diätassistent*innen zu investieren. Im Vergleich zu Ländern wie Kanada oder Großbritannien würde Deutschland in Sachen Ernährungstherapie noch völlig in den Kinderschuhen stecken. "Dort ist das interdisziplinäre Team, das aus dem Arzt, Apotheker, Ergo- und Physiotherapeuten, einem Logopäden und uns besteht, schon lange ein Standard", sagt Caroline. Durch ihre gemeinsame Visite und Absprache können sie das Risiko ausschließen, etwas zu übersehen. "Es gibt also keine Komplikationen, der Heilungsprozess verzögert sich nicht und der Patient kann schnell wieder nach Hause", erklärt Caroline.

9 Milliarden Euro für falsches Krankenhaus-Essen

Besonders die Folgekosten in der Pflege könnte man dadurch einsparen. "Je schneller die Patienten wieder auf die Beine kommen, desto weniger Arbeitsaufwand bedeutet das auch für die Schwester", sagt Caroline. Neben Komplikationen kann auch schon die falsche Ernährung den Krankenhausaufenthalt von Patient*innen verlängern. So investiert der Bund laut der Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) aktuell neun Milliarden Euro in sogenannte Mangelernährung. Das bedeutet, dass die Mahlzeiten der Patient*innen nicht die Nährstoffe enthalten, die sie eigentlich bräuchten, um schnellstmöglich gesund zu werden. Selbst bei einem Hüftschaden kann falsche Ernährung eine Heilung verzögern. "Diätassistenten können hingegen viel gezielter auf den Bedarf eines Patienten reagieren, wodurch er schneller wieder in seinen gewohnten Alltag zurück kann", erklärt Caroline. Bleibt jedoch alles so wie es ist, geht die DGEM bis 2020 von einem Kostenanstieg auf elf Milliarden Euro aus.

Mehr Wertschätzung und eine bessere Einordnung des Berufes

Caroline und ihre Kolleg*innen erhoffen sich durch die Namensänderung des Berufstitels der Diätassistent*innen eine bessere Einordnung und mehr Wertschätzung. Schließlich seien sie zu keinem Zeitpunkt ihrer Tätigkeit nur die rechte Hand der Ärzt*innen. Sie beraten ihre Patient*innen eigenverantwortlich und treffen unabhängige Entscheidungen. Die Einordnung der Diätassistent*innen kann sogar zu einer falschen Behandlung führen. "Müsste ein Patient sich zwischen einer Ernährungsberaterin oder einem Diätassistentin entscheiden, würde er immer ersteres wählen, weil das nach mehr Fachexpertise klingt", sagt Caroline. Schließlich wissen die wenigsten, dass hinter dem Berufstitel eine dreijährige Ausbildung und ein Staatsexamen steckt. Diätolog*in würde hingegen professioneller klingen und wird deswegen vom VDD als Alternative vorgeschlagen.

Auch auf internationaler Ebene führt die schwammige Berufsbezeichnung immer noch zu Verwechslungen, wodurch die Zusammenarbeit blockiert. Neben einem neuen Namen wünscht sich der VDD für die Änderung des Diätassistentengesetzes (DiätAssG) außerdem, dass mindestens zwei Diät*assistenten in jedem deutschen Krankenhaus arbeiten und mehr politische Mitbestimmung im Bundesausschuss. "Aktuell entscheiden fachfremde Politiker über unsere Gesundheitspolitik, wodurch man sich selbst Steine in den Weg legt", sagt Caroline.

Bis das neue Gesetz eines Tages kommt, schöpft Caroline ihre tägliche Energie aus der Rückmeldung ihrer Patient*innen. "Die für mich viel bedeutendere Wertschätzung ist, wenn ich sehe, wie meine Patienten durch meine Mithilfe wieder aufblühen und in ihren gewohnten Alltag zurückfinden", sagt sie. Müsste sie sich noch mal für einen Beruf entscheiden, wäre das wieder der der Diätassistentin.