Eigentlich war das Ergebnis keine Überraschung. In den Umfragen kurz vor dem Referendum führte zwar das Nein-Lager, aber viele hatten bereits einen Sieg Erdoğans befürchtet. Es war außerdem klar, dass auch eine Mehrheit gegen das Präsidialsystem nicht die Meinungsfreiheit zurückbringen oder die Menschen aus den türkischen Gefängnissen befreien würde, aber es wäre ein bitter nötiges Signal gewesen.

Schlussendlich stimmten 51,4 Prozent der türkischen Bevölkerung für eine Änderung in der Verfassung und somit für Recep Tayyip Erdoğan. Da das Ergebnis so haarscharf ausgefallen ist, lohnt sich ein genauerer Blick umso mehr. Bei dieser angeblich freien Wahl am Sonntag passierten nämlich so einige Merkwürdigkeiten.

Manipulation von drei bis vier Prozent

Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu verkündete beispielsweise bereits am frühen Sonntagabend, dass mehr als 90 Prozent der Stimmen ausgezählt seien. Als eine Reporterin daraufhin bei der Wahlbehörde nachhakte, wusste diese erst von 60 Prozent. Dazu passt auch die Geschichte eines Wahlhelfers in Istanbul, der gerade seine Urnen zur Wahlkommission brachte, als er im Fernsehen hörte, dass sein Bezirk bereits ausgezählt worden sei. Er machte es auf Twitter öffentlich, kurz bevor Erdoğan seinen Sieg verkündete.

Auch in der Kurdenmetropole Diyarbakir wurden Wahlbeobachter*innen der HDP und CHP einfach von der Polizei mitgenommen und erst nach Schließung der Wahlurnen wieder freigelassen. Darum fordert die prokurdische HDP nun auch eine Neuauszählung von zwei Drittel der Urnen. Es gehe um "eine Manipulation der Abstimmung in Höhe von drei bis vier Prozentpunkte", heißt es seitens der Partei.

Sieht man sich die Ergebnisse auf der türkischen Landkarte genauer an, wird klar, wie gespalten das Land ist. In den großen Städten, genauso wie in der Ägäis-, Mittelmeerregion und Südostanatolien, wo besonders viele Kurden leben, erreichte Erdoğan keine Mehrheit. In Zentralanatolien bis hinauf zur Schwarzmeerregion wurde hingegen mehrheitlich mit Ja abgestimmt.

In Wahrheit weiß niemand, wie die Menschen in der Türkei am Sonntag wirklich abgestimmt haben. Wir werden es vermutlich auch nie erfahren. Das schmerzt, da dieses Unwissen das Gegenteil von Demokratie darstellt. Selbst wenn man einen möglichen Betrug aber nachweisen könnte, gäbe es de facto keine türkische Institution, die stark genug wäre, Erdoğan in die Schranken zu weisen.

Die mit den Kochtöpfen sind zurück

Viele der Nein-Wählerschaft wollen das knappe Ergebnis trotzdem nicht anerkennen. Bei den Protesten in den beiden Istanbuler Stadtteilen Beşiktaş und Kadıköy, waren nach Schätzungen von Zeit Online insgesamt mehr als 10.000 Menschen auf den Straßen. Die Menschen schlugen auf Töpfe und protestierten. Seit Erdoğan 2013 die Gezi-Proteste mit Gewalt beendete, beinhaltet diese Form des Protests eine große Symbolik in der Türkei.

Der Präsident verspottet die Demonstrierenden derweilen auch bereits öffentlich dafür. "Während das Ergebnis vom 16. April unser Volk zufriedengestellt und glücklich gemacht hat, hat es andere ganz ohne Zweifel enttäuscht. Wie ich sehe, sind die mit den Kochtöpfen und Pfannen wieder aufgetaucht", so Erdoğan bei seiner Ansprache vor dem Präsidentenpalast am Montagabend.

Die 24-jährige Sinah* ist niedergeschlagen, ja ziemlich traurig und wütend. So sehr hat sie darauf gehofft, dass das Nein doch irgendwie gewinnt. In einem Posting versucht sie, ihre Freunde trotzdem weiterhin zu motivieren: "Auch wenn dieser Tag wie eine Niederlage wirkt, gebt nicht auf. Konzentrieren wir uns auf die 48 Prozent, die den Mut hatten Nein zu stimmen und auf alle, die erst gar nicht die Chance dazu hatten." Es sei die letzte Chance für ihr Land gewesen und trotzdem gehe das Leben jetzt weiter, meint sie zum Schluss.

Folgen des Referendums

In den Sozialen Medien zeigen zeitgleich viele Menschen aus Europa ihre Solidarität für die Erdoğan-Gegner*innen. Ein österreichischer Freund schreibt in einem Posting auf Facebook, dass er mit seinen Gedanken in diesen Tagen bei all seinen türkischen Freund*innen sei. Sie könnten auf seine Hilfe zählen, wenn sie nach Europa kommen wollen würden. Eine junge Türkin antwortet darauf, ob er sie dazu auch heiraten würde. Er antwortet mit Ja.

Daraufhin kommentieren zig andere Türkinnen, dass sie ihn auch heiraten möchten, um aus der Türkei flüchten zu können. Dieser Kommentar mag als ein Scherz gedacht sein, symbolisiert aber ein reales Problem: Den jungen Türken*innen fehlt es derzeit an Alternativen. Visa sind, wenn sie vergeben werden, sehr teuer und Aufenthaltsgenehmigungen generell sehr schwer zu bekommen. Wir sollten uns also dringend die Frage stellen, wie wir in Europa diesen Menschen helfen können.

Auch in schwierigen Zeiten dürfen wir den Glauben an die Demokratie nicht aufgeben. In Wahrheit ist die Türkei nämlich selbst an einem Scheideweg angelangt. Themen wie die zahlreichen internationalen Konflikte, die Kurdenproblematik im eigenen Land, der sterbende Tourismus und die hohe Verschuldung des Staates, wurden im Wahlkampf instrumentalisiert.

Erdoğan versprach seiner Wählerschaft, all diese Konflikte zu lösen. Ob er seine Versprechen nun einhalten kann, ist mehr als fraglich. Solange es in der Türkei noch mutige Menschen gibt, die Nein sagen und für ihre Rechte kämpfen, hat das Land sehr wohl noch Zukunft. Noch ist die Türkei nicht ganz verloren.

*Name von der Autorin geändert