Bis Egid sechs Jahre alt war, hatte er keinen Ausweis. Für den Schulanfang musste er mit seinem Vater zum Meldeamt und seinen Namen offiziell eintragen lassen. Der Beamte lehnte den Vornamen ab, da er kurdisch ist. "Wie soll ihr Sohn heißen?", fragte er ihn. Als die beiden über mögliche Namen diskutierten, betrat der Direktor des Meldeamts den Raum und rief: "Gebt ihm doch meinen Namen!" Ab diesem Tag war Egid plötzlich Süleyman. Der Sechsjährige verstand nicht, warum er plötzlich anders hieß. Seine Eltern erklärten ihm, wenn jemand Süleyman in der Schule sage, müsse er aufstehen, denn das sei sein neuer Name.

Noch heute zucke er zusammen, wenn jemand auf der Straße Süleyman rufe, erzählt Egid in der Dokumentation Navê te çi ye (übersetzt: Wie ist dein Name?) von den kurdischen Filmemachern Cihad İlbaş und Omer Altas. Darin erzählen Kurd*innen, wie es für sie ist, in der Türkei mit einem kurdischen Namen aufzuwachsen.

Cihad selbst ist Kurde und kennt viele Geschichten dieser Art. Der 26-Jährige sitzt im Schneidersitz in einem Park an der Promenade im Stadtteil Kadıköy. Es ist besonders warm an diesem Tag in Istanbul. Er trägt Vollbart, sein Hemd ist die ersten drei Knöpfe geöffnet. Eigentlich arbeitet er als Kurdischlehrer am Institut für Kurdologie in Istanbul, seit Dezember vergangenen Jahres ist es aber geschlossen.

Die Anerkennung eines Vornamens klingt banal, ist sie aber nicht

Lange gab es in der Türkei keine Vor- und Nachnamen im klassischen Sinn. Im osmanischen Reich übernahmen Söhne einfach den Vornamen des Vaters als Familiennamen und fügten einen Hinweis auf die Herkunft hinzu. Viele Türk*innen trugen generell nur Vornamen. Das ist auch heute noch im türkischen Sprachgebrauch bei der höflichen Anrede geblieben: Man spricht Menschen nicht mit dem Nachnamen sondern dem Vornamen und dem Zusatz Bey (Herr) oder Hanim (Dame) an.

Durch das 1934 eingeführte Familiennamensgesetz, mussten sich alle Türk*innen einen Nachnamen eintragen lassen, obwohl sie keinen hatten. Da Q, X und W im kurdischen, aber nicht im türkischen Alphabet vorkommen, wurde ihre öffentliche Verwendung 1928 verboten. Auch kurdische Begriffe und die Namen bekannter Personen untersagte der Staat. Durch das Verbot der kurdischen Sprache, versuchte die Türkei die kurdische Identität auszulöschen. Viele Kurd*innen mussten so türkische oder arabische Namen annehmen.

Die Problematik eines verbotenen Vornamens mag banal klingen, denkt man aber länger darüber nach, schafft sie viele Probleme im Alltag. Zum Beispiel, dass Schulfreund*innen einen anders nennen als die eigene Familie. Polizeikontrollen können ziemlich kompliziert und Briefe und Pakete des Staates nicht angenommen werden, da meist nicht einmal die Familien alle offiziellen Namen ihrer Kinder wissen. Außerdem symbolisieren verbotene Namen den Menschen natürlich auch, dass der Staat ihre Existenz grundsätzlich nicht akzeptiert.

Ankara strich Kurdistan einfach von der Landkarte

Ausgerechnet Recep Tayyip Erdogan lockerte in den vergangenen Jahren die Gesetze und erlaubte die kurdische Sprache. Auch kurdische Namen dürfen heute theoretisch vergeben werden. Trotzdem stimmen die örtlichen Behörden in den meisten Fällen nach wie vor nicht zu. Als Begründung nennen sie den Verstoß gegen türkische Sitten und Gebräuche. Besonders jetzt unter der politischen Zuspitzung und dem Krieg in Syrien, hat sich das Verhältnis zwischen Kurd*innen und dem Staat zusätzlich angespannt.

Wie viele Kurd*innen tatsächlich einen anderen Namen in ihrem Pass stehen haben, dazu gibt es keine offiziellen Zahlen. In der Türkei leben zwischen zehn und zwölf Millionen Kurd*innen, das sind 18 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie sind somit die größte ethnische Minderheit im Land.

Der Konflikt zwischen Kurd*innen und dem Staat ist an sich kein neuer. Bereits während des Türkischen Unabhängigkeitskriegs zwischen 1919 und 1923 überzeugte Mustafa Kemal Atatürk die Kurd*innen, auf seiner Seite zu kämpfen. Er versprach ihnen dafür Autonomie. Als im Juli 1923 der Vertrag von Lausanne unterschrieben wurde, revidierte Atatürk seine Zugeständnisse. Durch den Vertrag bekam die Türkei ihre völkerrechtliche Anerkennung. Die Siedlungsgebiete der Kurd*innen wurden aber einfach unter der Türkei, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Ab diesem Zeitpunkt forcierte Ankara eine massive Assimilierungspolitik und strich Kurdistan einfach von der Landkarte. Seither geht der türkische Staat brutal gegen religiöse und ethnische Minderheiten in der Türkei vor.

Trailer Navê te çi ye von Cihad İlbaş und Omer Altas

Die echten Türk*innen

Bereits in der Schule wird den Menschen in der Türkei eingebläut, was echte Türk*innen ausmache und dass Armenier*innen, Griech*innen und Kurd*innen diese bedrohten und ihnen ihr Land wegnehmen wollten. So werden Feindseligkeiten und Vorurteile schon den Kindern beigebracht. Wie sehr das bereits junge Menschen prägt, zeigt die Geschichte von Roni und Gizem, zwei Studienkolleg*innen in Istanbul.

Gizem will mit Roni ausgehen, denn sie mag ihn. Doch als sie erfährt, dass er Kurde ist, spricht sie kein Wort mehr mit ihm. Sieht man sich die Ergebnisse des Verfassungsreferendums dieses Jahres auf der türkischen Landkarte genauer an, wird klar, wie gespalten das Land ist und dass Gizem und Roni kein Einzelfall sind. Sondern viel mehr die tagtägliche, traurige Realität. In den großen Städten, genauso wie in der Ägäis-, Mittelmeerregion und Südostanatolien, wo besonders viele kurdische Menschen leben, erreichte Erdogan keine Mehrheit. In Zentralanatolien bis hinauf zur Schwarzmeerregion stimmten hingegen die meisten mit Ja.

Die türkische Politik ist kompliziert und manchmal schwer zu durchschauen, denn auch das Verhältnis der Kurd*innen zum Staat ist wiederum kein homogenes. So wählte ein gar nicht so kleiner Anteil der Kurden in der Vergangenheit Erdogans AKP. Nicht umsonst schmückte sich der Präsident einmal mit der Aussage, er sei der eigentliche Vertreter der Kurd*innen.

Wir werden verfolgt wie die Juden unter den Nationalsozialisten"

In den Augen des Kurdisch-Lehrers Cihad sollte Identität grundsätzlich kein emotionales Thema sein. "Ich bin kein patriotischer Mensch und will meine Identität auch nicht romantisieren. Ich bin eben ein Kurde, wie ein Schwede Schwede ist. Der Unterschied ist nur, dass mir die Türkei das nicht erlaubt", erklärt er. Darum sei jede*r Kurd*in gezwungen politisch zu denken.

Geht es nach Cihad, ist die Situation für Kurd*innen in der Türkei gerade besonders schlimm. "Wir werden verfolgt wie die Juden unter den Nationalsozialisten", meint er ernst. Darum würden auch viele Kurd*innen mit der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sympathisieren. Cihad selbst will sich zur PKK nicht äußern. Nur so viel: Natürlich würde es Menschen prägen, wenn sie bereits bei ihrem Namen merken, dass ihre Identität niemals akzeptiert werden würde.

Cihad's Eltern haben ihm einen arabischen Namen gegeben, um ihn zu schützen und sein Leben als Kurde in der Türkei nicht noch zusätzlich zu erschweren. Viele Männer in der Türkei tragen denselben Namen. Übersetzt bedeutet es: Anstrengung, Einsatz, Kampf. Cihad hasst seinen Namen. "Eines Tages will ich meinen Namen ändern. Ich hab mich auch schon für einen kurdischen Namen entschieden: Keyakser."

Das sei der richtige Name von Kaveh, einem Schmied der in der kurdischen Sage den bösen assyrischen König mit einem Hammer tötete und so das Volk befreite. Darum gilt er als der Held der Kurd*innen und auch die jährliche Newroz Feier erinnert daran. "Derzeit stimmen die Behörden einer Namensänderung nicht zu. Aber eines Tages werde ich Keyakser heißen, da bin ich mir sicher."