Eng aneinander gekuschelt sitzen die beiden Frauen auf einem Sofa, ihre Hände zärtlich ineinander verschränkt, beide Köpfe zieren bereits graue Haare. Bilder wie die von Tina Meriggi und ihrer Partnerin Lorenza Accorsi sieht man eher selten. Wenn es um die LGBTIQA-Community geht, dominieren oft jüngere Menschen das Narrativ. Doch Tina und Lorenza sind 78 beziehungsweise 72 Jahre alt und haben sich in der Ü40-Gruppe einer Organisation für Lesben in Mailand kennengelernt. Zu diesem Zeitpunkt war Tina bereits fast 60 Jahre alt.

Die intime Aufnahme der beiden ist nicht zufällig entstanden. Sie gehört zu einer Serie der Dokumentarfotografin Melissa Ianniello aus Bologna. Mit Wish It Was a Coming Out erzählt sie die Geschichten homosexueller Singles und Paare, die zwischen 60 und 90 Jahre alt sind.

Ich wollte das doppelte Tabu in Bezug auf Homosexualität und Alter in Italien untersuchen.
Melissa Ianniello

Die Idee für die Serie gründet auf Ianniellos eigenen Erfahrungen. Sie ist lesbisch, schaffte es jedoch nicht, drei ihrer Großeltern davon zu erzählen, bevor diese starben. "Wish It Was a Coming Out kommt daher und fängt dort an – bei einer schmerzhaften Lüge, die Jahre anhält", sagt die 29-Jährige im Gespräch mit ze.tt. Die Fotoreihe sei ein indirekter Tribut an ihre verstorbenen Opas und ihre Oma mütterlicherseits. Denn für die Porträts traf sie Menschen, die ihnen alterstechnisch ähneln, was die sexuelle Orientierung betrifft hingegen eher ihr selbst. "Ich wollte das doppelte Tabu in Bezug auf Homosexualität und Alter in Italien untersuchen." Gerade lesbische Frauen, insbesondere ältere, seien sonst gesellschaftlich fast unsichtbar. Da sich Italien kulturell, sozial und ökonomisch im Süden und Norden sehr unterscheidet, wollte Melissa Ianniello außerdem möglichst viele unterschiedliche Orte ansteuern.

Eine andere Generation

Um ihre Protagonist*innen zu finden, meldete sich Ianniello bei Datingapps an, manche lernte sie über Bekannte kennen. Nach einem ersten Telefongespräch besuchte sie jede*n zu Hause. "So konnte ich lächelnde Gesichter, Sorgen, Gedanken, Liebe und Sehnsüchte einfangen, denen sonst kaum eine Stimme gegeben wird", erzählt Ianniello. Sie wollte diese Menschen in ihren Häusern ablichten, um Szenen wahrer Intimität zu kreieren. Jede Geschichte für sich habe sie emotional berührt.

Zum Beispiel die von Victor Palchetti-Beard, 67 Jahre alt, und Gianni Manetti, 70 Jahre alt, aus Florenz. Als Victor, geboren in den USA, 1975 zum Studieren nach Italien kam und Gianni traf, war es Liebe auf den ersten Blick. Da er als US-Amerikaner aber nicht lange in Italien bleiben konnte, entschloss sich Giannis Mutter, Victor zu adoptieren. Mittlerweile sind die beiden seit über 40 Jahren zusammen, können allerdings keine eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. Denn auf dem Papier sind Gianni und Victor immer noch Brüder.

Durch die Arbeit an dem Fotoprojekt hat Ianniello die Generation ihrer Großeltern noch einmal neu entdeckt, sagt sie: "Ich habe gelernt, wie stark und stolz ältere Menschen sein können."

Noch keine ideale Gesellschaft

Obwohl die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber homosexuellen Menschen insgesamt zugenommen habe, gebe es in Italien laut Ianniello noch immer viel Ablehnung und immer wieder Fälle homophober oder transphober Gewalt. Erst 2019 sei eine 28 Jahre alte Frau, Elisa Pomarelli, von einem Mann ermordet worden, weil sie lesbisch war. Auch rechtlich wünscht sich die Fotografin noch deutliche Verbesserungen. Erst im Mai 2016 verabschiedete das italienische Parlament überhaupt die Einführung eingetragener Lebenspartnerschaften für homosexuelle Paare. Kinder können sie aber bisher nicht adoptieren. Gleichzeitig sieht Ianniello, dass die nächsten Generationen der LGBTIQA-Community sehr offen gegenüberstehen. "Ich bin optimistisch: Jetzt brauchen wir nur noch Gesetze, die uns schützen."

In einer idealen Gesellschaft sollte niemand Angst davor haben, sich vor Leuten, die er oder sie liebt, zu outen.
Melissa Ianniello

Das Coming Out im Titel der Fotostrecke bezieht sich laut Ianniello nicht nur auf die eigene Identität, sondern vor allem auch darauf, generationsübergreifend die eigenen Erfahrungen und das Leben zu teilen. Die Fotografin träumt von einer Welt, in der mögliche Vorurteile niemanden davon abhalten, er oder sie selbst zu sein: "In einer idealen Gesellschaft sollte niemand Angst davor haben, sich vor Leuten, die er oder sie liebt, zu outen."

Ihr persönlich gaben das Projekt und die Protagonist*innen den Mut, letztlich doch mit ihrer einzigen noch lebenden Großmutter, der Mutter ihres Vaters, zu sprechen, bevor es zu spät war: "Als ich mich ihr gegenüber geoutet habe, hat sie zwar nicht alles an meinem lesbischen Leben verstanden – zum Beispiel, wie Lesben Sex haben –, aber sie hat meine Homosexualität absolut akzeptiert", berichtet Ianniello. Tatsächlich sei ihre Oma sogar traurig gewesen, nicht schon eher davon erfahren zu haben.

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