Das Online-Projekt dekoder.org hat es sich zum Ziel gesetzt, russischen Journalismus und wissenschaftliche Kompetenz auf eine Plattform zu bringen. Die Mitarbeiter übersetzen russische Artikel, die unabhängig berichten. Außerdem erklären Experten russische Begriffe. Wir haben mit dem Herausgeber und Gründer Martin Krohs über seine Motivation und Herausforderungen gesprochen.
Herr Krohs, Sie haben vor ein paar Wochen die Plattform dekoder.org gegründet. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Die Idee, dekoder.org zu gründen, entstand bei einem Skype-Gespräch zwischen Berlin und Moskau mit meiner Freundin. Wir unterhielten uns über eine Sendung im unabhängigen russischen Internetfernsehen Doschd. Das war ein runder Tisch zu einem politischen Thema, bei dem es ziemlich hoch her ging und unterschiedliche Positionen aufeinanderprallten. Und da dachten wir, man muss wirklich mal zeigen, dass es auch innerhalb von Russland ganz verschiedene Positionen gibt. Dieses Skype-Gespräch war sozusagen das Schlüsselerlebnis, Dekoder zu gründen.
Wie viele Leute arbeiten an dem Projekt?

Unser Kernteam besteht aus fünf Leuten, ist deutsch und russisch gemischt und arbeitet in Hamburg. Außer mir arbeiten alle halbtags. Keiner von uns ist ausgebildeter Journalist, wir sind alle Quereinsteiger. Wir haben aber auch Freelancer, vor allem als Übersetzer, rechnet man die mit, sind etwa 15 Leute an dem Projekt beteiligt.

Ich selbst habe zehn Jahre in Russland gelebt, uns alle verbindet jedoch etwas mit dem Land. Die Wahrnehmung von Russland hier in Deutschland ist leider oftmals doch sehr schwarz/weiß. Es wird Vieles vereinfacht. Unser Ziel ist es, die Feinheiten zu zeigen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass dieses Land sehr kompliziert ist.
Was haben Sie in den zehn Jahren in Russland gemacht?

Ich habe einen Buchladen für europäische Bücher aufgebaut, mit einer kleinen Galerie dazu. Außerdem habe ich Kulturprojekte organisiert und für Zeitungen geschrieben. Von 1996 bis 2006 habe ich fest in Moskau gelebt und fahre weiter häufig hin und her. In Deutschland lebe ich auch in einem gemischten deutsch-russischen Umfeld.

Wie kommen Sie an ihre Quellen?

In Russland ist die Presselandschaft völlig anders als hier. Viele Medien sind in Staatsbesitz. Es gibt jedoch auch unabhängige Medien, wie wir auf unserem Portal zeigen. Im März bin ich mit einem Kollegen nach Moskau und St Petersburg gefahren und wir haben die Redaktionen besucht, deren Texte wir jetzt übersetzen. Wir wollten die Quellen persönlich kennenlernen. Außerdem lesen wir täglich sehr intensiv im russischen Internet und in den sozialen Netzwerken, so dass wir immer auf dem Laufenden sind. Wir sehen uns nicht als Gegenpropaganda, sondern uns interessiert Qualitätsjournalismus und investigativer Journalismus.
Wie oft veröffentlichen Sie ihre Inhalte?

Zwei bis drei Mal in der Woche veröffentlichen wir neue Inhalte. Außerdem produzieren wir einmal in der Woche eine Presseschau und einen Newsletter. Was die Kanäle betrifft, da nutzen wir neben unserer Seite auch Facebook und Twitter.
Hat der russische Staat bereits versucht, ihre Arbeit zu behindern?

Nein, und wir erwarten auch eigentlich nicht, dass das geschieht. Wir sind ja auch noch recht unbedeutend. Uns gibt es ja erst seit sechs Wochen. Außerdem sind wir ja im Westen, und können glücklicherweise frei veröffentlichen. Anders ist es mit Kritik. Die wird natürlich kommen, damit muss man einfach rechnen. Gerade auch von Kollegen. Es gibt Portale, die genau das Gegenteil von dem machen, was wir machen. Für die sind wir natürlich eine Konkurrenz.

Haben Sie bereits mit russischen Trollen zu kämpfen, die organisiert und bezahlt sind?

Bisher war es ganz ruhig. Aber es ist natürlich auch nicht so einfach, uns zu trollen, weil wir keine eigenen Inhalte produzieren, sondern lediglich vom Russischen ins Deutsche übersetzen. Wir versuchen das Portal wie eine Maschine zu gestalten, die Informationen verarbeitet und weitergibt. Wir sind so eine Art Übersetzungs-Maschine.
Es gibt auch in Deutschland viele pro-russische Stimmen. Wie reagieren die Leser auf Artikel von Dekoder?

In den vergangenen Wochen haben wir viele positive Rückmeldungen bekommen. Wir sind ja auch pro-russisch, uns liegt das Land am Herzen – wir sind nur gegen die vereinfachten Bilder, die in Deutschland oft vermittelt werden. Kritik am Projekt gibt es in dem Sinne nicht, kritische Fragen allerdings schon. Wir werden gefragt: "Warum übersetzt ihr nur diese Quellen und nicht andere?" Wir würden ja tatsächlich auch Staatsquellen übersetzen, aber dafür haben wir noch keine Rechte.

Wie unterscheidet sich die Berichterstattung der staatlich kontrollierten Medien in Russland von der westlichen oder der unabhängigen Presse? Stichworte: Syrien, Ukraine.

Das Fernsehen ist zu 100 Prozent in Staatshand. Und in Russland beziehen die Menschen zu 95 Prozent ihre Informationen ausschließlich aus dem Fernsehen. Vielleicht 15 Prozent der Quellen können als unabhängig bezeichnet werden. Es werden jedoch immer weniger und die Werbekunden brechen weg, weil sie Angst haben, keine Staatsaufträge zu erhalten, wenn sie für kritische und liberale Auftraggeber tätig werden. Die russischen Fernsehnachrichten haben derzeit tatsächlich etwas von einer Kriegsberichterstattung. Eine Wettervorhersage in Russland berichtete über wenig Wind und eine gute Flugsicht für die Bomber über Syrien.
Für wen ist euer Portal gedacht?

Wir wollen ein junges, frisches und kluges Russland zeigen. Die Statistiken sagen uns, dass die meisten Leser zwischen 30 und 35 Jahre alt sind. Wir wollen auch junge Menschen erreichen. Unser Ziel ist es, unseren Lesern Themen zu zeigen, zu denen sie sonst keinen Zugang hätten. Sie sollen wissen, dass sie bei uns tiefer einsteigen können. Dekoder ist kein Newsportal, es ist eher ein Leseportal. Und je mehr Artikel wir veröffentlichen, desto mehr wird dekoder.org wirklich so etwas wie ein Buch über Russland.
Wie soll Dekoder in der Zukunft finanziert werden?

Bisher haben wir 100 Sachartikel und etwa 35 journalistische Artikel veröffentlicht, die erst einmal übersetzt werden müssen. Viele sind ja auch Longreads. Bei der Korrektur lesen wir den russischen und deutschen Text parallel, was natürlich einen größeren Aufwand erfordert.

Die Anschubfinanzierung hat eine Privatperson aus dem deutschen Mittelstand übernommen, die Projekte zu Völkerverständigung und Bildung fördert, das sind auch unsere Satzungszwecke. Wir sind ja keine Firma, sondern eine gemeinnützige Organisation. Gerade sind wir im Gespräch mit verschiedenen Stiftungen. Mit diesen, privaten Förderern und Leserspenden könnten wir uns langfristig finanzieren. Das Stichwort lautet: Mischfinanzierung.