Niemand protestierte, als Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, bei seiner Rede im Europäischen Parlament im Juni 2016  behauptete, Rabbiner wollten das Wasser der Palästinenser*innen vergiften. Mit dieser erschütternden Szene beginnt die Dokumentation Auserwählt und ausgegrenzt – Der Hass auf Juden in Europa.

Eine der Hauptthesen der umstrittenen Produktion ist, dass sich europäischer Antisemitismus dieser Tage in einem neuen, hässlichen Gewand zeige. Vermeintliche Kritik an der Politik Israels reproduziere wie in Abbas’ Rede jahrhundertealte judenfeindliche Klischees und normalisiere so antisemitisches Gedankengut und antisemitische Übergriffe.

Vereinfachte Antworten auf zu komplexe Themen

Auf Abbas’ Rede folgt eine Rede des Nazifunktionärs Julius Streicher, der den Holocaust mit der Begründung rechtfertigte, die Juden seien die Wurzel allen Übels. In den nächsten 90 Minuten reisen die Filmemacher*innen durch Deutschland, nach Frankreich, Israel, das Westjordanland und Gaza, um 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg den Antisemitismus in der europäischen Gesellschaft zu erfassen und zu erklären. Leider gelingt der Doku weder das eine noch das andere. Antisemitismusforschende wie Opfer antisemitischer Übergriffe kommen selten zu Wort.

Stattdessen basiert der Film ohne weitere Erläuterungen auf der Annahme, Antizionismus sei mit Antisemitismus gleichzusetzen. Er liefert den Zuschauer*innen stark vereinfachte und einseitige Antworten auf manche der komplexesten Fragen des Nahostkonflikts wie den Siedlungsbau oder die Nakba, die Vertreibung von Palästinenser*innen bei der Staatsgründung Israels.

Einerseits entlarvt die Doku gekonnt Theorien über eine angebliche US-amerikanisch-zionistische Verschwörung als moderne Interpretation des antisemitischen Pamphlets Die Weisen von Zion. Andererseits verunglimpft er Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen mit Verweis auf die antisemitischen Ansichten einzelner Mitglieder, ohne sich ernsthaft aber mit den Argumenten von Organisationen wie B’Tselem auseinanderzusetzen.

Redaktionen haben die Freiheit Nein zu sagen

Das Urteil des Fernsehsenders Arte, die Filmemacher*innen hätten ihren Auftrag über Antisemitismus in Europa zu berichten verfehlt, löste eine Welle der Empörung aus. Als der deutsch-französische Fernsehsender, der die Doku im Auftrag des WDR produziert hatte, sich gegen die Ausstrahlung entschied, vermutete die Bild-Zeitung politische Motive und verkündete, den Film für 24 Stunden auf ihrer Internetseite zur Verfügung zu stellen. Die sind seit Mitternacht um.

"Der Verdacht liegt bitter nah, dass diese Dokumentation nicht gezeigt wird, weil sie politisch nicht genehm ist, weil sie ein antisemitisches Weltbild in weiten Teilen der Gesellschaft belegt, das erschütternd ist", schrieb Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Erstens trügen deutsche Medien eine historische Verantwortung für die Aufklärungsarbeit gegen Antisemitismus. Zweitens, so Reichelt weiter, hätten die Bürger*innen das Recht, diesen aus öffentlichen Mitteln finanzierten Film mit eigenen Augen zu sehen.

Mit dieser Argumentation moralisiert die Bild-Redaktion eine Debatte, in der es erst einmal um die redaktionelle Freiheit der öffentlich-rechtlichen Sender geht. Auch wenn Filme aus öffentlichen Geldern finanziert werden, steht es den Redaktionen zu, sich gegen die Ausstrahlung eines Films zu entscheiden, wenn dieser aus ihrer Sicht den Standards der ausgewogenen Berichterstattung nicht gerecht wird.

Eine weitere Ausstrahlung würde die öffentliche Debatte bestärken

Gleichzeitig tragen die Sender die Verantwortung, eine bereits fortgeschrittene öffentliche Debatte redaktionell zu begleiten und in diesem Rahmen auch umstrittene Filme zu senden. Sonst sehen sich all jene Menschen bestätigt, die den öffentlich-rechtlichen Sendern eine politische Zensur unterstellen.

Vor allem aber bietet uns eine Ausstrahlung von Auserwählt und ausgegrenzt die Chance, die zahlreichen Lücken zu füllen, die der Film hinterlässt und uns mit den dringenden Fragen rund um Antisemitismus in Europa auseinanderzusetzen. Mit welchen Herausforderungen sehen sich jüdische Gemeinden in Europa konfrontiert? Wie können wir sie stärker im Kampf gegen Antisemitismus unterstützen? Warum stehen in unseren Parlamenten, auf Demonstrationen und in Schulen nicht mehr Menschen gegen Antisemitismus auf? Die Doku sollte gesendet werden, am besten gleich heute.