Jedes Produkt hat seinen Preis. Wenn wir durch die Super-, Drogerie- und Elektronikmärkte promenieren und unsere Einkaufswagen füllen, machen wir das letztlich, um unsere eigenen Bedürfnisse und Ansprüche zu erfüllen. Wir verzehren, verbrauchen und verschleißen – und sind dafür bereit, den entsprechenden Betrag an der Kasse zu lassen. Der Preis dafür ist vorgegeben, wir hinterfragen ihn selten. Diese Preise spiegeln allerdings oft nicht die wahren Kosten wider, welche die vorangegangene Produktion verursacht hat. Wir Endnutzer*innen zahlen nur in Bruchteilen. Die wahren Kosten trägt die Natur.

Wir bohren Löcher in die Erdoberfläche, graben, baggern, pumpen und fördern. Wir bedienen uns der Materialien, die sich über Millionen von Jahren auf natürliche Weise gebildet haben und verarbeiten sie weiter. Wir wollen unsere Autos tanken und unsere Nahrungsmittel verpacken, wir wollen uns die Zähne putzen und unsere Wohnzimmer frisch streichen. Für jedes Stück Aluminium braucht es Bauxit, für jedes Stück Plastik braucht es Öl. Wir ziehen Erze aus der Erdkruste, um Metalle zu erzeugen, und roden auf Kosten der Biodiversität Wälder für unseren Holzbedarf. Die Rohstoffe werden häufig mittels chemischer Substanzen und Prozesse weiterverarbeitet. Dabei entstehen wiederum Nebenprodukte und Abfallstoffe. Viele davon sind toxisch.

Von oben zeigt sich das wahre Ausmaß

J Henry Fair zeigt von oben, was wir als Endverbraucher*innen meist nicht zu sehen bekommen. Mit der Hilfe von Privatpilot*innen fliegt der Fotograf und Umweltschützer über Erdölförderstätten, Raffinerien, Bergwerke und Steinbrüche und hält die Auswirkungen auf die Umwelt mit seiner Kamera fest. Eine Erlaubnis für diese Überflüge holt er sich von den Unternehmen nicht ein: "Wahrscheinlich ist es nicht strikt legal, was ich tue, aber es gab bisher keine rechtlichen Probleme", sagt Fair. Die aus der Rohstoffgewinnung resultierenden Umweltschäden, wie unter anderem Wasser- und Luftverschmutzung, auch den Klimawandel, bezeichnet er als die versteckten Kosten für die Umwelt. "Die Umweltkrisen sind viel schlimmer, als die meisten Menschen wissen. Wir zerstören die komplexen Systeme, die das Leben auf diesem Planeten ermöglichen", sagt Fair.

In welchem Ausmaß wir in diese Systeme eingreifen, nimmt die Öffentlichkeit meist nur in Ausnahmefällen wahr. Wenn etwas schief läuft und Medien darüber berichteten. Im April dieses Jahres jährte sich die Ölkatastrophe um Deepwater Horizon zum zehnten Mal. Im Jahr 2010 fing die Ölbohrplattform Deepwater Horizon nach einer Explosion Feuer und versank zwei Tage später im Meer. Elf Menschen kamen ums Leben, etwa 800 Millionen Liter Öl flossen in den Golf von Mexiko. Laut einer Studie der Naturschutzorganisation NRDC von 2015 starben bis zu diesem Zeitpunkt fast 5.000 Meeressäuger, mehr als 2.000 Meeresschildkröten, beinahe eine Million See- und Küstenvögel und viele mehr. Der Vorfall gilt als die schwerste Umweltkatastrophe aller Zeiten.

Bis heute hat sich die Natur nicht in Gänze davon erholt. Immer noch werden Reste von Öl in den Meeresbewohnern gefunden. Die University of South Florida veröffentlichte dazu eine aktuelle Studie, welche die Folgen der Katastrophe auf die Tierwelt zehn Jahre später beleuchtet.

Im Januar 2019 ereignete sich im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais eine Katastrophe einer anderen Art. Nahe der Stadt Brumadinho brach der Damm einer Abraumhalde einer Eisenerzmine, der zuvor vom deutschen TÜV Süd begutachtet worden war. Abraumhalden sind in der Bergbausprache Becken, in denen abgebaute Gesteinsschichten und Abwasser gesammelt werden, die über dem wertvollen Erz liegen. Millionen Kubikmeter giftiger Schlamm ergossen sich über Siedlungen, zerstörten Häuser und Brücken, bevor sie in den acht Kilometer entfernten Fluss Paraopeba mündeten. Mindestens 259 Menschen starben, mehr als 100 Hektar Urwald wurden zerstört, eine brasilianische NGO für Umweltschutz erklärte das Ökosystem rund um die Schlammlawine als zerstört. Heute ist die Eisenerzmine wieder in Betrieb, das Wasser im früher klaren Fluss ist nach wie vor rotbraun gefärbt.

Beide Beispiele sind Worst-Case-Szenarios und Ereignisse, die in internationalen Medien viel Beachtung fanden. Es entstanden zahlreiche Spendenkampagnen, NGOs und freiwillige Helfer*innen taten ihr Möglichstes, um die Katastrophen einzudämmen. Aber auch ohne derartige Vorfälle ist der Eingriff in das natürliche System von Menschenhand extrem – nur bekommen wir die Auswirkungen nicht unbedingt zu Gesicht. Dieses Verständnis will Fair mit seinen Bildern untermauern.

Es braucht keine Katastrophe, um die Umwelt zu schädigen

Ganze Wälder müssen aufgrund unserer wirtschaftlichen Interessen weichen. Der Wasserverbrauch im Bergbau ist so hoch, dass teils ganze Flüsse austrocknen, weil der Grundwasserspiegel sinkt. Das Grundwasser wiederum wird mit Schad- und Giftstoffen belastet, die beim Abbau freigelegt werden. Manche dieser Stoffe können eine sehr lange Zeit überdauern und damit sehr lange Schaden anrichten. Zum Beispiel fanden Forscher*innen des Alfred-Wegener-Instituts des Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung 2016 im Atlantik hohe Bleikonzentrationen in 500 bis 2.000 Metern Tiefe. Sie führen das auf Emissionen aus Autoabgasen in Europa und Nordamerika zurück, die vor der Einführung bleifreien Benzins in die Umwelt gelangten.

Sicher ist das nicht in unserem Sinne. Die Frage ist aber: Könnten wir wirklich darauf verzichten? Zum Beispiel auf Aluminium? Aluminiumverbindungen stecken als Schleifmittel in unserer Zahnpasta und als Weichmacher im Waschmittel. Ohne sie würden uns Zündkerzen, LCD-Bildschirme und Cerankochfelder im Alltag fehlen.

Der gefährlichste Stoff bei der Aluminiumproduktion ist ätzende Natronlauge (pH-Wert von 14), die normalerweise ausgewaschen und als Abfallprodukt deponiert wird. Das Gesteins-Natronlaugen-Gemisch nennt man Rotschlamm. Der Damm eines solchen Deponiebeckens brach Anfang Oktober 2010 in Ungarn. Die rote Schlammlawine tötete zehn Menschen, beförderte Hunderte mit teils schweren Verätzungen ins Krankenhaus und machte die Region um Kolontár vermutlich für Jahrzehnte unbewohnbar. Moderne Anlagen recyceln die Lauge und versuchen, die Natur vor ihr sicher zu halten. Es gibt aber nach wie vor Aluminiumwerke, die diesen Rotschlamm am Ende der Produktion ins Meer kippen, in der Annahme, dass der Abfall dort so sehr verdünnt wird, dass es niemanden stört. Das Entsorgen von Abfällen in Gewässern, von Bauschutt und Baggergut bis hin zu Atommüll, hat einen eigenen Namen: Verklappung. So können Tausende Chemikalien, im schlimmsten Fall auch Schwermetalle wie Chrom, Quecksliver, Nickel, Blei oder Kupfer, in Flüsse oder Ozeane gelangen.

Solche Deponien bei der Rohstoffverarbeitung gibt es für unzählige Stoffe, nicht nur für Neben- und Abfallprodukte: riesige gelbe Schwefelbecken aus der Ölsandraffinerie, Abfallberge von Kohleasche aus der Stromerzeugung, Phosphatberge, um nur einige zu nennen. J Henry Fair hat sie fotografiert. Mit seiner Arbeit möchte er nicht primär auf spezifisches Fehlverhalten bestimmter Unternehmen aufmerksam machen, sondern uns Verbraucher*innen die Augen öffnen und in Folge unser Konsumverhalten ändern: "Wir müssen bedenken, dass jeder Euro, den wir ausgeben, ungeheure Konsequenzen hat. Wir müssen uns bilden, weniger Fleisch essen, weniger fliegen, weniger fahren", sagt er. "Unsere Situation ist schlimm, aber wir alle können sie beeinflussen, indem wir unsere Kaufgewohnheiten ändern und bei Wahlen für Parteien stimmen, die die Umwelt schützen."