Deutschlands Bevölkerung wird älter. Und mit der Zahl der über 60-Jährigen steigt auch der Bedarf an Pflegepersonal. Nur gibt es schon heute zu wenig Fachpersonal für die mehr als drei Millionen pflegebedürftigen Menschen in Deutschland.

Dieser Missstand war auch Thema der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und der Union. In diesem Zusammenhang postete der CDU-Gesundheitspolitiker Erwin Rüddel auf Twitter seine Sichtweise über den Nachwuchsmangel im deutschen Pflegesektor. Um die Situation zu verbessern, schlägt er einen Deal vor: Politiker*innen würden konsequent handeln und Pflegende sollten damit anfangen, gut über ihre Arbeit zu sprechen.

Rüddels Vorschlag an das Pflegepersonal, doch endlich wieder positiv über ihre Arbeit zu sprechen, wurden von vielen kritisiert. Sein Tweet zeuge von der Unkenntnis über die schlechten Zustände in der Pflege.

Daher haben wir euch anonym nach euren Erfahrungen im und mit dem Pflegesektor gefragt. Hier sind eure Geschichten.

Pflegekräfte

Andere werden vernachlässigt

"Als ich nachts mit dem Intensivteam zu einer Reanimation gerufen werde, ist die Pflegerin geplanterweise alleine. Sie reanimiert. Niemand kümmert sich um den verwirrten Patienten, der über den Gang läuft. Niemand kann dem jungen Herren auf die Toilette helfen, da er alleine nicht aufstehen kann. Er nässt ein. Die Patientin stirbt trotzdem. Da wurde mir mit aller Wucht klar, dass einiges falsch läuft."
Angst, es nicht mehr zu schaffen

"Als mir klar wurde, dass es in diesem Beruf normal ist, Angst zu haben. Angst vor dem nächsten Tag; Angst, unterbesetzt vor einem unmöglichen Aufgabenberg zu stehen; Angst vor den Vorgesetzten; Angst, es nicht mehr zu schaffen."
Alle kamen zu kurz

"Ich arbeite seit fünf Jahren in der Pflege und habe es in meinem letzten Job jeden Tag gemerkt. So lange, bis ich’s nicht mehr konnte. Ich habe auf einer pädiatrischen Intensivstation gearbeitet. Hauptsächlich Frühchen. Wir waren täglich unterbesetzt. Es gab nicht einen Tag, an dem ich mit dem Gefühl nach Hause gegangen bin, dass ich einen Patienten so versorgt habe, wie ich es gerne getan hätte. Alle kamen zu kurz. [...] Der Zeitmangel lässt viele Leute abstumpfen. Das ist sehr, sehr traurig. Ich hatte das Gefühl, dass die einzige Möglichkeit ist, eine Überlastungsanzeige aufgrund von gefährlicher Pflege zu schreiben. Ich weiß nicht, wie oft ich das bisher getan habe. Gebracht hat es noch nie etwas. Die meisten meiner Kolleginnen sagen, dass mehr Geld zwar toll wäre, aber wir sind uns einig, dass wir lieber auf eine Gehaltserhöhung verzichten, wenn uns dafür mehr Personal zur Seite stehen würde."

Als wir einen Pflegebereich mit 60 alten Menschen – teils gerontopsychiatrisch erkrankt, teils immobil, teils sterbend – nur mit Schülern am Laufen hielten."

Die Herrschaften von oben sehen leider nur die Kosten

"Ich kann es nicht auf eine Situation beschränken. Eine der aktuellsten Situationen war, als ich zu einem Patienten mit offensichtlichem Redebedarf sagen musste, dass ich leider gehen muss, weil in dem Moment drei Notfallglocken klingelten. Und ich wollte diesen Satz nie sagen. Dass etwas schief läuft in der Pflege sehen wir bei uns aktuell auch auf Station: Wir betreuen hauptsächlich onkologische Patienten (bis zu 41) und unsere Stationsleitung musste sich kürzlich rechtfertigen, warum wir nachts immer noch zu zweit Dienst machen. Das Ergebnis ist, dass wir ein Protokoll führen müssen, um darzustellen, was wir alles machen. Um was wollen wir wetten, dass wir bald nur noch alleine Dienst machen? Die Herrschaften von oben sehen leider nur die Kosten für Personal. Aber das Personal wird auch gebraucht und muss bezahlt werden."

Wenn Haare nicht mehr geföhnt werden und der Pflegebedürftige sich dann erkältet. Einfach weil keine Zeit da ist. [...]"

18 Tage Arbeit am Stück

"Nach elf Tagen Dienst am Stück war ein freier Tag geplant. Am Abend des elften Tages wurde ich angerufen, da für den Frühdienst am nächsten Tag Personal gefehlt hat. Um meine Kollegin nicht im Stich zu lassen, sprang ich ein. Darauf folgten weitere sechs Tage Dienst."
Wenn du beschließt, niemals ins Krankenhaus zu müssen

"Wenn deine Mutter (Krankenschwester) nur noch völlig entnervt nach Hause kommt, dir von den Hygienezuständen erzählt und du beschließt, niemals ins Krankenhaus zu müssen."

Täglich, wenn Kollegen sich genervt fühlen, wenn Teamarbeit gefragt ist. Gleiches gilt für Ärzte. Alle sind über dem Limit."

Arbeiten ohne Bezahlung

"Meine Mutter arbeitet als Führungskraft in einem Altenpflegeheim und berichtet andauernd von Personalmangel und Personalausfällen wegen Überlastung. Teilweise arbeiten die Leute unentgeltlich, damit die zu Pflegenden wenigstens eine Grundversorgung haben. Und dann ist da noch der Umstand, dass mein Onkel Bereichsleiter in einer Weberei ist, keine direkte Verantwortung für Leben trägt, nur knapp ein Drittel der Mitarbeiter meiner Mutter unter seinem Hut hat und trotzdem am Ende des Monats mehr als das Doppelte auf dem Gehaltscheck hat."
Empfehlung zum Jobwechsel

"Als mir so ziemlich auf jeder Station von jemandem gesagt wurde, dass ich mich doch lieber nach etwas Vernünftigem umschauen soll. Sie würden niemandem empfehlen in dem Beruf zu bleiben."

Pflegebedürftige Angehörige

Katheter eingewachsen

"Als bei meinem Opa ein Blasenkatheter nicht rechtzeitig gewechselt wurde und dieser somit langsam eingewachsen ist. Entfernt wurde er dann, viel zu spät und ohne Narkose, von einem gestressten Pfleger. Mein Opa konnte danach tagelang nur unter Schmerzen sitzen."
Zwei Pfleger*innen für 40 Patient*innen

"Als ich meine Mutter im Pflegeheim besuchte und mehrmals feststellen musste, dass für 40 Patienten maximal zwei Pfleger vor Ort waren. Dies ließ mich das erste Mal stutzig werden. Bei meiner Großmutter im Altenheim ist es nicht viel anders, nur dass die Menschen noch aktiver sind und nicht immer auf Hilfe angewiesen sind, so wie es bei meiner Mutter immer nötig war."

Nicht genug zu trinken

"Meine Oma war in einem Pflegeheim. Ich habe sie besucht, wann immer ich konnte. Wenn ich sie mal drei oder vier Tage hintereinander nicht besuchen konnte, folgte ein Anruf, dass sie im Krankenhaus sei. Das Pflegepersonal hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern, dass sie genug trinkt. Wenn ich nicht kommen konnte, um dafür zu sorgen, ging es für sie wegen der Exsikkose (Austrockung aufgrund einer Dehydration, Anm. d. Red.) ins Krankenhaus. Viermal in sechs Monaten."
Niemand fühlte sich zuständig

"Mein Vater erlitt letztes Jahr eine Hirnblutung – danach konnte er sich nicht mehr gut bewegen, war sehr vergesslich und konnte sich unter anderem nicht selbst waschen. Nach einer Woche auf einer normalen Station war sein Penis entzündet. Warum? Weil sich niemand dafür zuständig fühlte, meinen Vater zu waschen. Und das ist nur eine von sehr, sehr vielen Geschichten des letzten Jahres."
Magensonde wegen Zeitmangel

"Weil keine Pflegekraft Zeit hat, dem Patienten dreimal täglich das Essen zu geben, er es jedoch nicht selbst kann, erhält er eine Magensonde."

In der Aus- und Weiterbildung

Keine Zeit für richtige Pflege

"Neben meinem Studium habe ich in der stationären Behindertenhilfe gearbeitet. Irgendwann hatte ich keine Zeit mehr für die Menschen, weil ich nur mit der Pflege beschäftigt war. Auch da war so wenig Zeit, dass ich oft während des Toilettengangs Zähne putzen musste. So möchte ich später nicht gepflegt werden."
Den blutüberströmten Patienten angeschrien

" [...] Ich wurde im Nachtdienst als Springerin für zwei Station mit etwa 45 Patienten eingesetzt – obwohl ich Schülerin im zweiten Lehrjahr war. Natürlich war viel los und als ein Patient blutüberströmt auf dem Boden liegend aufgefunden wurde, hat ihn die zuständige Krankenschwester angeschrien, was das soll und sie jetzt echt sauer wird. Denn er war natürlich schon die ganze Nacht ,nestelig' aufgrund einer beginnenden Demenz. Als Schülerin war ich zu perplex und nicht in der Position, in der Situation adäquat zu reagieren. Heute würde ich anders reagieren. Ich könnte, glaub ich, ein ganzes Buch mit solchen Geschichten füllen! [...]"

Täglich, wenn meine Freundin von der Ausbildung nach Hause kommt und weint."

Jenseits jeglicher Legalität

"Als ich FSJ gemacht habe, das Personal komplett überfordert war, und ich jenseits jeglicher Legalität alles mögliche machen musste, für das ich nicht im geringsten qualifiziert war."
Zu langsam

"Als mir im Examenseinsatz gesagt wurde, ich würde zu langsam arbeiten. Nur weil ich alle vier Patienten in einem Zimmer zum Duschen begleitete statt ihnen einfach eine Schüssel mit Wasser ans Bett zu stellen."