Saul Leiter war einer der ersten Fotografen, der das New Yorker Straßenleben auf Farbfotografien festhielt. Nun ist eine umfassende Retrospektive seiner Arbeit erschienen.

Straßenfotografien zeigen häufig banal wirkende Alltagsmomente. Gleichzeitig dokumentieren sie, wie Mode, Architektur und Technologie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte ausgesehen haben. Wer heute ein Gefühl für das Leben in den 1940er-, 50er- und 60er-Jahren in den USA entwickeln möchte, schaut sich am besten die Fotografien von Saul Leiter an.

Saul Leiter floh in den 1940er-Jahren als 23-Jähriger von Pittsburgh im US-Bundesstaat Pennsylvania in die raue, lebendige Metropole New York City. Er floh vor seinem streng jüdisch-orthodoxen Elternhaus, vor seinem Vater, der sich für seinen Sohn eine Zukunft als Rabbi wünschte. Doch statt sich für Religion zu begeistern, entwickelte der jugendliche Leiter eine Faszination für Kunst. In einer öffentlichen Bibliothek schmökerte er in Büchern über die westliche Kunstgeschichte, japanische Kalligrafie, peruanische Textilien oder Tantrakunst. Als Teenager begann er zu malen – eine Liebe, die ihn Zeit seines Lebens begleiten und seine Fotografie prägen sollte.

In der Großstadt entdeckte Leiter die Fotografie

1946 kam es zu einem Bruch mit seiner Familie und er zog in den New Yorker Stadtteil East Village – hier wohnte Leiter von 1953 bis zu seinem Tod in derselben Wohnung mit großen, bodentiefen Fenstern mit Blick auf einen kleinen Garten mit Springbrunnen. In der Großstadt entdeckte Leiter die Fotografie. In den kommenden Jahrzehnten wurden die Straßen New Yorks zur Bühne und zu Protagonistinnen seiner Kunst.

"Ich nehme Fotografien in meiner Nachbarschaft auf. Ich glaube, dass wunderbare Dinge an bekannten Orten passieren. Wir müssen nicht immer ans andere Ende der Welt rennen", sagte Leiter 2008 in einem Interview mit Sam Stourdzé. Seine Fotos zeigen alltägliche Momente in New York: rote Ampellichter, beschlagene Schaufensterscheiben, regennasse Asphaltstraßen, rauchende Männer. Doch seine Bilder leisten mehr, als Szenen mit journalistischer Akribie zu dokumentieren. "Was auf den ersten Blick als eine Straßenfotografie erscheint, verwandelt sich beim genauen Betrachten in ein Stillleben, in einen Moment des Innehaltens inmitten des turbulenten Straßen- und Stadtgeschehens", schreibt der Fotografiekenner Ulrich Rüter in einem Aufsatz für die Ausstellung Saul Leiter – Retrospektive, die 2012 in Hamburg gezeigt wurde.

"Leiters Fotografien zeigen eine einzigartige Mischung aus Abstraktion und gleichzeitiger Beschreibung des alltäglichen Lebens", schreibt Rüter. "Typisch ist auf vielen Fotografien die meist einzelne Figur. Diese wird meist überlagert von Schichten, die den Straßenverkehr, andere Fußgänger, Architektur und Schaufenster zeigen. Fast eingeklemmt erscheinen viele von ihm fotografierte Personen im Gewirr von Leuchtreklamen oder Verkehrszeichen."

Die Grenzen zwischen Fotografie und Malerei verschwimmen

Das Ergebnis sind poetische Fotos, die an Gemälde erinnern. Die Komposition der Farben trägt zu diesem Eindruck bei. Leiter arbeitete zunächst mit Schwarz-Weiß-Filmen, begann aber schon Ende der 40er-Jahre mit Farbfilmen zu experimentieren. Dies war eine Besonderheit, denn Farbe war damals "vor allem mit Werbung verbunden", schreibt Martin Harrison in dem Vorwort zu dem Bildband Saul Leiter, Early Color. "Es war eine glatte, kommerzielle Sache, die in Chrysler- und BH-Anzeigen verwendet wurde und amerikanische Frauen der Eisenhower-Zeit in schillernden Küchen zeigte. Ein Fotograf, der vielleicht mehr mit persönlichem Ausdruck beschäftigt war, neigte dazu, verächtlich über sie zu denken."

Doch Leiter liebt Farben, wovon sowohl seine Fotos als auch seine Gemälde zeugen. Leiters Fotografien und Gemälde ähneln sich auf höchst faszinierende Art und Weise: Seine Kunstwerke sind häufig abstrakte Darstellungen, bei denen verschiedene Farben zum Einsatz kommen. Oft zerlegen senkrechte oder waagerechte Linien, in den Fotografien beispielsweise von Fensterrahmen oder Bürgersteigen verursacht, die Bilder in verschiedene Teile. Das Zusammenspiel der Farben auf den Farbfotografien vermittelt den Eindruck, man betrachte eine Malerei statt den Ausschnitt einer erlebten Wirklichkeit.

"Ich mag es, wenn man nicht sicher ist, was man sieht", sagte Leiter in dem Interview mit Stourdzé. "Wenn man nicht weiß, warum der Fotograf ein Bild gemacht hat und wir nicht wissen, warum wir es anschauen, so entdecken wir plötzlich, dass wir mit dem Sehen beginnen. Diese Verwirrung mag ich."

Mein Lebensziel ist es, die Stromrechnung zu bezahlen.
Saul Leiter

Der Bildband Saul Leiter – Retrospektive zeigt nun die verschiedenen Facetten seiner Arbeit – von Schwarz-Weiß- bis Farbfotografie, Auftragsarbeiten für Modemagazine und Gemälde. Leiter starb im November 2013 in New York. Erst in den 1990er-Jahren wurde er international als das anerkannt, was er war: ein Pionier der Straßen- und Farbfotografie. Die vierzig Jahre zuvor war Leiters Arbeit von der Kunstszene weitgehend ignoriert worden – er fotografierte trotzdem weiter. "Ich verstehe Menschen nicht, die ihr Leben nicht damit verbringen, das zu tun, was sie machen wollen", soll Leiter einmal seinem Freund Adam Harrison Levy gesagt haben. Levy hat einige der besten Zitate des Künstlers festgehalten. Ein weiteres davon: "Mein Lebensziel ist es, die Stromrechnung zu bezahlen."

Der Bildband Saul Leiter – Retrospektive ist 2019 beim Kehrer Verlag erschienen. Arbeiten von Saul Leiter werden vom 05.06. bis 15.09.2019 im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung in München ausgestellt.