Jasmina Mirasevic verbringt viel Zeit in einem Krankenhaus in Stuttgart. Nicht, weil sie als Ärztin oder Pflegerin arbeitet. Und nicht, weil sie als Patientin eine Behandlung braucht. Wenn die 44-Jährige ins Krankenhaus geht, hat sie stets ihre Kamera dabei. Sie arbeitet dort als Fotografin.Mirasevic arbeitet in einer Abteilung, in der sich Mediziner*innen mit rekonstruktiver plastischer Chirurgie beschäftigen. Sie bauen aus körpereigenem Gewebe eine neue Brust für ehemalige

Brustkrebs-Patient*innen; sie machen Brandopfer wieder mobil, helfen nach Unfällen und bei angeborenen Fehlbildungen; sie führen Geschlechtsanpassungen durch; sie korrigieren Haut, Weichteile, Muskeln, Nerven, Sehnen, Knochen sowie Knorpel und verändern den Körper nach den jeweiligen ästhetischen Ansprüchen. "Sie stellen Defizite wieder her", fasst Mirasevic den Anspruch der Mediziner*innen zusammen.

Mirasevics Aufgabe dabei ist die Dokumentation. Im klinikeigenen Fotostudio empfängt sie Patient*innen vor oder kurz nach dem ersten Gespräch mit den Mediziner*innen und fotografiert die Körperstellen, die operativ verändert werden. Ihre Aufnahmen führt sie auch nach der Operation bis zu den Nachkontrollen fort, um die Veränderungen und Heilprozesse festzuhalten.

Dem medizinischen Fortschritt sei Dank

Die Geschichte der plastischen Chirurgie beginnt mit der Nase und großen Schmerzen. Schon etwa 1200 v. Chr. sollen laut der Deutschen Gesellschaft der Plastischen, Rekonstruktiven und Ästhetischen Chirurgen rudimentäre Nasenoperationen in Indien vorgenommen worden sein. Nach indischer Rechtssprechung wurden Verbrecher*innen, Ehebrecher*innen und Kriegsgefangenen zur Strafe die Nase amputiert. Um die Verstümmelung zu beheben, schnitten Mediziner*innen Hautlappen aus Stirn oder Wange und formten damit neue Nasen – zu einer Zeit, in der es weder Anästhesie noch sterile OP-Säle gab. Indien gilt damit als Geburtsland der plastischen Chirurgie.

Über die Jahrhunderte hinweg, über das alte Ägypten, die griechisch-römische Zeit, bis zur Moderne veränderten sich die Methoden und Anwendungsbereiche der plastischen Chirurgie. Aus der sogenannten indischen Methode wurde im Laufe des 15. Jahrhunderts die italienische Methode, bei der italienische Ärzte erstmals aus Oberarmgewebe Nasen formten. Immer öfter wurde der medizinische Fortschritt und die Forschung in plastischer Chirurgie in Büchern dokumentiert. Eines der einflussreichsten davon war Die operative Chirurgie von Johann Friedrich Dieffenbach (1845). Es war ein wichtiger Baustein dafür, dass sich die plastische Chirurgie neben der Nase auch an andere Bereiche des Gesichts wagen sollte: unter anderem Unterlippen, Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Defekten im Wangenbereich.

1895 führte der Chirurg Vincenz Czerny die erste Brustvergrößerung an einer Tumorpatientin durch. 1906 wurde das erste Facelifting in Deutschland durchgeführt, 1920/21 folgte die erste dokumentierte Brustverkleinerung. Die beiden Weltkriege und die Notwendigkeit davongetragener Verletzungen zu korrigieren, beschleunigten den plastisch-chirurgischen Fortschritt jedes Mal. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich mit der Weiterentwicklung moderner Mikroskope schnell die sogenannte Mikrochirurgie und damit vor allem die Handchirurgie. Weitere Meilensteine sind etwa die 1962 von zwei Amerikanern eingeführten Silikonimplantate, 1968 gelang die erste Transplantation einer Fußzehe als Daumenersatz und 2005 die erste Gesichtstransplantation an einem lebenden Menschen.

Über den Mut, sich zu zeigen

Jasmina Mirasevics Arbeit im Krankenhaus geht über die einer gewöhnlichen Fotografin hinaus. "Man baut eine ganz besondere Verbindung zu einem Patienten auf, wenn er einem die persönliche Geschichte erzählt", sagt Mirasevic. Das sei wichtig. Denn Menschen müssen ihren Körper zeigen, obwohl sie sich darin nicht wohl fühlen. Die Beleuchtung strahlt, der Fokus ist auf Körperstellen gerichtet, für die man sich schämt, und eine fremde Person steht angezogen hinter einer Kamera und drückt den Auslöser.

Nicht selten entstehen freundschaftliche Beziehungen zwischen Mirasevic und den Patient*innen. Sie sprechen offen, der medizinische Kontext und die Hemmungen fallen. "Ich versuche durch meine Neugier zu motivieren und spüren zu lassen, dass ich den Menschen annehme, wie er ist", sagt die Fotografin aus Stuttgart. Manchmal gebe es auch Tränen. Vor allem, wenn Betroffene die Geschichte erzählen, die zum Wunsch oder zur Notwendigkeit einer Körperveränderung geführt hat.

Leonie* zum Beispiel. Die Fotografin beschreibt die 28-Jährige als "unglaublich charismatische, freundliche, selbstbewusste" Frau. Als Leonie zwei Jahre alt war, fanden gerade Bauarbeiten in ihrem Haus statt. Die Arbeiter*innen beschädigten irrtümlicherweise die Gasleitung. Die Explosion machte sie zum Waisenkind. Beide Eltern kamen ums Leben, Leonie selbst erlitt schwerste Verbrennungen. "Verändert hat sich wahrscheinlich in diesem Moment alles für mich, aber ich war 'zum Glück' noch so jung und kenne es ehrlich gesagt nicht anders", sagt sie.

Leonie überlebte. Ihre Beine sind von tiefen Narben gezeichnet und seit dem Unfall Grund für ihre Scham. Die Vernarbung hat sie zudem unbeweglich gemacht. Im Rahmen dutzender plastischer Korrekturen nahmen Mediziner*innen unter anderem eine sogenannte Gewebeexpansion vor. Dabei wird ein Ballon mit Kochsalzlösung unter die normale, an die Narbe angrenzende Nachbarhaut gelegt, um sie über einen längeren Zeitraum zu dehnen. Ist die Haut ausreichend gedehnt, werden die Narben operativ entfernt und die überschüssige, gesunde Haut dazu verwendet, um die Narbenwunde zu verschließen.

Die Korrekturen befreiten Leonie zum größten Teil, aber nicht zur Gänze. "Noch heute überlege ich mir im Sommer fünfmal, wie kurz meine Hose oder mein Rock sein soll, selbst wenn es draußen 36 Grad hat. Weniger als Siebenachtel gehen für mich eher nicht", sagt sie. Mittlerweile ist Leonie verheiratet und hat ein Baby. "Ich könnte nicht glücklicher sein." Als Fotografin Mirasevic diese Geschichte hörte, sei sie überwältigt gewesen, erinnert sie sich. "Sie hat mir das ganz normal und ohne jeglichen Schmerz erzählt. Meine Bewunderung wuchs mit jedem Foto.

Die Macht des Skalpells

Geschichten wie diese hört Mirasevic immer wieder. Von Unfallopfern, die einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Wie zum Beispiel eine 26 Jahre alte Frau, die im Urlaub in der Türkei vor den Augen ihres Freundes beim Überqueren der Straße von einem Taxi erfasst und zwei Kilometer mitgeschleift wurde. Sie zog sich schwere Schürfwunden und Verbrennungen am ganzen Körper zu. Mirasevic hörte die Geschichten von Menschen, die wegen extremen Gewichtsverlusts eine so hängende Haut haben, dass sich durch die Reibung Entzündungen bildeten. Von jungen Burstkrebspatientinnen, von Männern und Frauen, die im falschen Körper geboren sind, oder Bodybuildern, die sich die Nippel versetzen lassen, weil es bei einem Wettbewerb sonst Punkteabzug geben würde.

So entstand das Fotoprojekt Skindeep – Die Oberfläche trügt. Es zeigt Menschen, die sich aus ästhetischen Gründen formverändernden oder wiederherstellenden Eingriffen unterziehen und sich abseits der medizinischen Perspektive ablichten lassen wollen. Damit sie endlich so aussehen können, wie sie sich selbst sehen möchten. Vielen erfüllte die plastische Korrektur einen Traum. Schließlich ist das Aussehen der öffentlichste Teil des Selbst. "Ein anderer Mensch sein – aber nur oberflächlich – kann Menschen glücklicher machen, sie neu definieren. Das ist es, was mir die plastische Chirurgie gezeigt hat", sagt Mirasevic.

* Name geändert