Roger Melis hat jahrzehntelang Menschen in der DDR fotografiert: Jugendliche auf dem Rummel, kritische Künstler*innen, Kaffeeklatsch. Seine Fotos brechen mit dem Bild einer angeblich gleichförmigen Gesellschaft, das sich bis heute hält.

Roger Melis war ein Tausendsassa der Fotografie: Er arbeitete als wissenschaftlicher Fotograf an der Charité, dann als Modefotograf, später bebilderte er Reportagen für Zeitungen und Magazine, porträtierte bekannte DDR-kritische Intellektuelle und arbeitete mit Buchverlagen zusammen. Dabei entstand über die Jahre ein riesiges privates Bildarchiv. Setzt man die Fotografien aus den verschiedenen Arbeitsbereichen zusammen, ergibt sich ein vielschichtiges Porträt des Lebens in Ostdeutschland.

Mathias Bertram ist Melis' Ziehsohn und Verwalter dessen Nachlasses. Wir haben mit ihm über die Arbeit seines Stiefvaters geredet.

ze.tt: Wie war Melis' Verhältnis zur DDR?

Mathias Bertram: Roger Melis wollte Fotograf werden, weil er die Vorstellung hatte, in der Welt rumzufahren, Reportagen zu machen, Entdecker zu sein. Nach Abschluss seiner Lehre ist er auch zunächst mehrere Monate auf einem Fischtrawler zur See gefahren. Als er zurückkam und loslegen wollte, war das genau im Sommer 1961, in dem die Mauer gebaut wurde.

Er wollte eigentlich rüber in den Westen und hatte sogar schon einen Fluchtplan. Zusammen mit einem Freund wollte er über Potsdam durch die Kanalisation in den Westen gelangen. Der Freund schaffte das auch. Roger wurde jedoch von seinem Stiefvater Peter Huchel von der Flucht abgehalten, der als Chefredakteur der Kulturzeitschrift Sinn und Form in Ungnade gefallen war, und zum Rücktritt gedrängt wurde. Huchel hat ihm gesagt: Ich hab hier so viel Ärger, wenn du jetzt auch noch abhaust, wird die Situation für mich unerträglich. Da ist Roger aus Verantwortung für die Familie in der DDR geblieben. Aber er hatte von Anfang an ein kritisch-distanziertes Verhältnis zu diesem Staat.

In den 60er-Jahren lernte er dann den Dichter und Liedermacher Wolf Biermann kennen und geriet in den Kreis der kritischen DDR-Intellektuellen. Das waren Leute, die durchaus für den Sozialismus waren, aber eben nicht für den Staatssozialismus der Funktionäre, sondern für einen demokratischen Sozialismus. An Wiedervereinigung und dergleichen hat damals überhaupt niemand gedacht. Die Niederschlagung des Prager Frühlings durch die Sowjetarmee war dann für Roger und seine Freunde eine herbe Enttäuschung, aber ganz aufgeben wollte man die Hoffnung auf eine Demokratisierung trotzdem nicht.

War Roger Melis ein politischer Fotograf?

Roger war auf jeden Fall ein Mensch, der sich intensiv mit politischen Fragen beschäftigte. Auch mit seiner Arbeit hat er immer wieder Position bezogen, indem er beispielsweise die kritischen Intellektuellen porträtierte, seine kritischen Bilder im Westen publizierte und sich dabei auch nicht einschüchtern ließ.

Was er aber nicht gemacht hat, sind polemische Bilder, solche, die die Realität aus politischen Absichten verzerrt darstellen. Als Fotograf wollte er kein Aktivist sein, sondern ein nüchterner und kritischer Chronist der Verhältnisse. Es ging ihm darum, möglichst präzise Verhältnisse und Situationen auf den Punkt zu bringen.

Wie hat Melis die Wende empfunden?

Erst einmal als Befreiung – von seinen ersten Fluchtplänen 1961 an hat er sich eigentlich immer eingesperrt gefühlt. Als Künstler durfte er zwar in den 80er-Jahren manchmal in den Westen reisen und sogar ein ganzes Buch über Paris machen. Aber er hatte immer ein schlechtes Gewissen, weil er manchmal raus durfte und andere nicht. Das Grenzregime hat ihm immer missfallen.

Auf der anderen Seite begann für ihn mit der deutschen Einheit – wie für alle anderen Fotografen auch – eine wirtschaftlich schwierige Zeit. Er verlor seinen Lehrauftrag an der Kunsthochschule, seine wichtigsten Auftraggeber, Unternehmen, Zeitschriften und Verlage wurden abgewickelt. Mit fünfzig Jahren musste er sich sein ganzes Leben neu aufbauen. Diese Erfahrung war für ihn wie alle Menschen seiner Generation sehr ernüchternd, trotzdem hat er sich natürlich keinen Tag in den vormundschaftlichen Staat zurückgesehnt.
Was können die Nachwendekinder von Melis' Bildern über die DDR lernen?

Die damalige Gesellschaft im Osten Deutschlands wird heute meist mit dem SED-Staat gleichgesetzt. In der Diskussion geht es überwiegend darum, ob man für den SED-Sozialismus oder gegen ihn war oder ist. Die Bilder zeigen aber, dass die Gesellschaft nicht identisch war mit dem Staat. Ursprünglich war das ja eine bürgerliche Gesellschaft, in der nun aber die SED die Macht in die Hand bekommen hatte und dann versuchte, alle Bereiche nach ihren Vorstellungen zu formen – aber dabei drang sie natürlich immer nur bis zu einem bestimmten Punkt vor.

Schon wie ihre eigenen Mitglieder tatsächlich dachten und lebten, konnte sie nicht wirklich kontrollieren. Vieles blieb deshalb Ritual und Fassade. Die Bilder zeigen das Leben hinter der Fassade, ein Leben, das zwar von der Politik beeinflusst, aber keineswegs durchgehend davon geprägt wurde.

Sie zeigen zum Beispiel, dass sich das Leben in Bergbau und Industrie von dem im Ruhrgebiet gar nicht so wesentlich unterschied. Und wenn man sich die Verhältnisse im Prenzlauer Berg anschaut, dann war das Leben in Kreuzberg zu der Zeit auch nicht viel anders.

Die Bilder eröffnen einen Zugang zur gelebten Wirklichkeit in der DDR. Heutzutage werden die Ostdeutschen gerne als Kollektivum behandelt, man unterstellt ihnen eine kollektive Identität, über die dann gerätselt wird. Demgegenüber zeigen sowohl die Ausstellung als auch das dazugehörige Buch Die Ostdeutschen, dass es in der DDR eine sozial, kulturell und politisch sehr differenzierte Gesellschaft gab, in der die Leute höchst unterschiedliche, ja gegensätzliche Erfahrungen gemacht haben.

Eine Ausstellung in den Rheinbeckhallen in Berlin zeigte 2019 eine umfangreiche Auswahl von Roger Melis' Bildern. Der letzte posthum veröffentlichte Bildband heißt Die Ostdeutschen und ist beim Lehmstedt-Verlag erschienen.