Etwa ein Jahr war es her, dass Katys Schwester ermordet wurde. Erwürgt von ihrem Freund, den sie erst seit wenigen Wochen kannte. Eine grausame Tat, die die gesamte Gemeinde Reutte in Tirol erschütterte, vor allem aber ihre Familie traurig und wütend zurückließ. Die erste Zeit danach erlebte Katy wie in einem Schockzustand, als wäre sie in einer Seifenblase gefangen, die Welt verschwommen, surreal. Mit psychologischen Phasenmodellen, nach denen ein Mensch angeblich bestimmte Stadien während des Trauerprozesses durchmache, hatte das laut Katy nichts zu tun. Sie beschreibt den Schmerz eher wie Wellen, die sie immer wieder überkamen. Völlig unberechenbar, unterschiedlich intensiv, doch immer schmerzhaft. Auf ihr Geschichtsstudium konnte sie sich nicht mehr konzentrieren, einen Studierendenjob zu finden grenzte an das Unmögliche. "Es war damals manchmal schon ein kleiner Erfolg für mich, meine Kaffeetasse abzuwaschen."

Wohin mit der Wut?

Die Familie nahm an Gesprächstherapien teil, doch im Alltag fanden Trauer und Wut kaum Platz, sagt Katy heute: "Die Gesellschaft verlangt, dass man schnell wieder funktionieren muss, aber das Unterdrücken der Gefühle ist ein großes Problem." Am Anfang ging sie noch offen mit ihrer Trauer um, doch das überforderte ihre Mitmenschen. Also fing sie an, die Emotionen zu unterdrücken, ihre Wut nicht mehr anzusprechen. Nach ein paar Monaten war sie nicht nur psychisch, sondern auch körperlich erschöpft. Ihr fielen die Haare aus, sie entwickelte Allergien und schlief schlecht. Bis heute hat sie mit Neurodermitis zu kämpfen.

Ein Kreuzbandriss vom Skifahren, den sie sich vor dem Tod ihrer Schwester zugezogen, raubte ihrem rechten Bein jegliche Kraft. Doch sie fand keine Energie für die Behandlung. Als ihr die Ärzte prophezeiten, dass sie sofort mit einer Physiotherapie beginnen müsse, machte es Klick: Sie muss sich bewegen – nicht nur für ihre körperliche Gesundheit, sondern auch für ihre seelische. Eigentlich war sie nie besonders sportlich gewesen, ein bisschen Fitnesstudio hier, ein bisschen Beachvolleyball im Sommer da. Doch der Gedanke an ihre Schwester motivierte sie zusätzlich: "Ich dachte, sie mochte Sport so gern, mach das jetzt verdammt! Eigentlich wollten wir mich zusammen wieder fit machen, dann habe ich mir für sie den Ruck gegeben."

Endlich wieder sich selbst spüren

Nach dem Tod ihrer Schwester versuchte Katy, im Fitnessstudio zu trainieren, doch dort erinnerte sie alles an Larissa. Sie war die Sportlichere von beiden, die sie immer mitgezogen hatte. Manchmal haben sie hier zusammen geschwitzt. Ohne Larissa ging es nicht, Katy kamen beim Training die Tränen. Mithilfe des Internets und einem befreundeten Sportstudenten erstellte sie deshalb einen Trainingsplan für zu Hause. Am Anfang strengte sie jede Übung an und doch befreite sie gleichzeitig ein bisschen. Während sie trainierte, überkamen sie die Emotionen, ihre Wut platzte heraus. So sehr, dass sie einmal fast ihren Schrank demoliert hätte. Schließlich ging sie an die frische Luft – und spürte sich zum ersten Mal seit Langem wieder selbst: "Ich konnte endlich meine ganze Wut rauslassen, plärren, spucken", sagt sie. Der Sport gab ihr neue Hoffnung, ein neues Ziel.

Sport für die Seele

Drei Jahre später hat Katy die Worte, die sie damals in ihr Tagebuch schrieb, umgesetzt. Sie hat ihre ursprüngliche Planung über den Haufen geworfen und ihr Leben neu sortiert. Nachdem sie ihr Geschichtsstudium beendet hatte, war sie kurzerhand nach Wien gezogen. So, wie sie und Larissa das eigentlich gemeinsam vorhatten. Larissa wollte Technische Physik weiterstudieren, Katy Archivwissenschaften.

Dort ließ sie sich zur Personal-, Gesundheits- und Functionaltrainerin ausbilden und belegte einen Kurs zur Trauerbegleiterin. Seit Mai dieses Jahres bietet sie nun in Innsbruck SeelenSport an: Sportkurse für Trauernde, Gruppen- und Einzeltrainings. Auf dem dazugehörigen Blog schreibt sie zudem alles auf, was sie vor ein paar Jahren gern gelesen hätte: hoffnungsvolle Artikel, Beiträge für die Mitmenschen von Trauernden, Ernährungs- und Sporttipps.

Die Idee kam ihr während ihrer Ausbildung in der österreichischen Hauptstadt. In dem Fitnessstudio, in dem sie gejobbt hatte, traf sich regelmäßig eine Frauengruppe zum Sport – aber auch, um über ihre Scheidungen zu reden und sich gegenseitig Hoffnung zu machen. Katy begann, erste Übungen zu entwickeln, die mit den Emotionen spielen und testete sie mit der Gruppe aus. Und sie las sich immer weiter in die Zusammenhänge von Psychologie, Bewegung und Depressionen ein.

Die Einheiten bei SeelenSport tragen Namen wie Bewegte Trauer oder Bewegte Wut. Es sind Drop-in Kurse, jede*r kann jederzeit dazu stoßen. An zwei Abenden die Woche mietet sich Katy dafür einen Raum. In den Kursen sollen Gefühle, die im großen Topf der Trauer drin sind, in der Bewegung angesprochen werden. Die Teilnehmer*innen hätten alle schon vor Jahren den Verlust erlebt, sei es durch Krebs, einen Autounfall oder eine Scheidung, erzählt Katy. "Wenn der Verlust bereits ein bisschen zurückliegt, will die Gesellschaft nichts mehr davon hören und meint, man müsse doch darüber hinweg sein." In Gesprächsgruppen träfen sich oft eher Leute, deren Wunden noch frisch seien. Zu ihr kämen hingegen Leute, die beispielsweise über die Jahre durch emotionales Essen 20 bis 30 Kilo zugenommen hätten. Die wieder abnehmen und gleichzeitig etwas für ihre Seele tun wollten.

Die Übungen hat Katy entsprechend angepasst. In Bewegte Trauer bringt sie den Kursteilnehmer*innen bei, "sich selbst zu umarmen". Sie legt sich dazu auf den Boden und macht vor, wie sich die Arme langsam um die nach oben gestreckten Beine schließen – eine Art, sich selbst wieder besser wahrzunehmen. Viele Teilnehmer*innen hätten das Gespür für den eigenen Körper durch die Ohnmacht der Trauer verloren. Wenn sie sich dann in solch einer Position halten könnten, sei das nicht nur ein Schritt zur inneren Balance, sondern auch ein kleiner Erfolg für sie selbst: "Schließlich ist das ganze Leben aus der Bahn geraten." Gleichzeitig vermittelt Katy ihnen im Kurs, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse auch im Alltag zum Ausdruck bringen dürfen, redet viel während der Stunden. "Eine Teilnehmerin hat mir erzählt, dass ihr eine Übung, bei der wir bewusstes Abgrenzen geübt haben, geholfen hat, auch mal Nein zu sagen. Darauf war sie sehr stolz."

Im Kurs Bewegte Wut geht es dagegen deutlich aktiver zu und darum, die aufgestaute Energie gezielt einzusetzen – und sei es nur für einen Moment. Fäuste werden geballt, es wird geboxt und die Hände danach wieder geöffnet. Es wird geflucht – sei es über das Leben oder nur über schlechten Kaffee – versucht, das Gefühl durch Bewegungen loszulassen. Mit Wut könnten die Leute noch schlechter umgehen als mit Trauer, meint Katy: "Wenn ich sage, ,Es regt mich auf, dass der Wichser das gemacht hat', werde ich sofort runtergeholt. Es wird mir empfohlen, erst mal durchzuatmen, aber das entspricht gar nicht meiner Natur." Den Teilnehmer*innen ginge es deutlich besser dadurch, alles rauszulassen. Ob sie nur einmal am Kurs teilnehmen oder regelmäßig, sei ihnen überlassen.

Katy selbst kann durch den Sport wieder besser schlafen, hat ein stärkeres Immunsystem – und ihre Berufung gefunden. Sie erwartet von den Teilnehmer*innen aber nicht, dass sie nach einer Stunde nie mehr wütend oder traurig sind. Darum ginge es nicht. Sie hofft aber, das Leben für sie für einen Moment erträglicher machen zu können. Ihr ist es wichtig, dass die Trauernden endlich einmal ansprechen dürfen, was sie bewegt, dass sie sich nicht verstecken müssen. "Das war mir so wichtig, denn sonst zerfrisst einen das innerlich." Larissa wäre stolz auf sie.