Früher ausgegrenzt als Ausländer*innenkind, heute erfolgreich in der Start-up-Welt: Die Unternehmenschefin Sophie Chung weiß, wie man sich durchsetzt. Und integriert. Porträt eines außergewöhnlichen Lebens

Sophie Chung, 33, wirkt ehrlich empört, als sie beschreibt, wie sie auf die Idee zu Qunomedical gekommen ist. "Wieso ist es heutzutage immer noch so schwierig, den richtigen Arzt zu finden?" Über ein Paar Schuhe könne man alles im Internet herausfinden, bevor man es kaufe. "Aber ausgerechnet, wenn es um die Gesundheit geht, bin ich total ausgeliefert." Eine Praxis finden, sicher sein können, dass sie gut ist und dann noch einen Termin bekommen – all das sollte in einem hochentwickelten Gesundheitssystem wie dem deutschen selbstverständlich sein. Objektive Informationen – oder auch nur eine große Zahl von subjektiven Einschätzungen – über einzelne Ärzt*innen oder Kliniken zu finden, ist häufig schwierig. Das wollen Sophie und ihr Co-Gründer Gero Graf ändern: Qunomedical soll Patient*innen die passende medizinische Leistung zum jeweiligen Krankheitsbild vermitteln. Sophie kennt das Gesundheitssystem von beiden Seiten, sie ist Ärztin.

Wir treffen uns in ihren Büroräumen im Berliner Stadtteil Mitte, wenige Wochen bevor das E-Health-Start-up eine Finanzierungsrunde über 1,8 Millionen Euro abschließen wird. Ein weiterer Höhepunkt in Sophies Karriere, die sich ein*e Headhunter*in nicht viel glanzvoller ausmalen könnte. Aus der österreichischen Mittelstadt führte sie ihr Weg in die Metropolen der Welt bis hierhin, an den Konferenztisch des eigenen Unternehmens.

Aus Sophies Leben ließe sich ein ganzer Gesellschaftsroman entfalten. Migration und Integration, Digitalisierung und Globalisierung, Identitätsbildung und Emanzipation der Frau. Dort, wo sich diese großen Strömungen unserer Zeit kreuzen, spielt sich ihre unwahrscheinliche Erfolgsgeschichte ab. Doch am Anfang war etwas anderes, am Anfang war der Krieg.

Flucht aus Kambodscha

Anfang der 1970er Jahre verloren im Bürgerkrieg in Kambodscha Hunderttausende Menschen ihr Leben. Nach dem Sieg der Roten Khmer unter Pol Pot wurde es noch schlimmer. Das kommunistische Regime tötete schätzungsweise zwischen 1,5 bis 2 Millionen Menschen, vielleicht mehr. Ungefähr jede*r vierte Kambodschaner*in starb in der Zeit. "Meine Mutter und ihre jüngste Schwester waren die einzigen aus ihrer Familie, die überlebt haben", sagt Sophie.

Beide flüchten 1980 aus Kambodscha, landen zunächst in einem Geflüchtetenlager in Thailand. Sophies Mutter spricht vier Sprachen, neben Kambodschanisch und Chinesisch auch Französisch und Englisch. Sie übersetzt für das Deutsche Rote Kreuz (DRK), die medizinischen Fachbegriffe kennt sie noch von ihrem Vater. Über das DRK bekommt sie Kontakt zum österreichischen Ordensverband.

Wenig später, am 4. August 1980, sitzen die Geschwister im Flugzeug gen Europa. Ihr Besitz: nicht mehr als das, was sie am eigenen Leib tragen. Sie werden zunächst im Geflüchtetenlager in St. Georgen im Attergau untergebracht, einer ehemaligen Pflegeanstalt für Menschen mit geistiger Behinderung. Fünf Jahre zuvor hatte hier ein junger kambodschanischer Mathelehrer seine ersten Brocken Österreichisch gehört: Sophies Vater.

Im tiefsten Winter zu Fuß nach Hause von der VHS

Linz, Anfang der 80er: Sophies Mutter und Tante werden von einer Pfarrfamilie aufgenommen. Die ältere Schwester hat das Sorgerecht für die jüngere. Sie verzichtet auf ein Studium und sucht sich einen Job in einer Bäckerei, damit die jüngere zur Schule gehen und die Matura machen kann. Vor ihrem ersten Tag erfährt sie, dass sie auf Deutsch Brötchen abzählen können muss – und setzt sich nachts mit ihrer Betreuerin hin, um die deutschen Zahlen zu lernen.

Sophies Vater spricht kein Wort Deutsch, als er nach Österreich kommt, aber fängt sofort einen Deutschkurs in der Volkshochschule an, der um 22 Uhr endet. Zu der Zeit fahren keine Busse mehr, also stapft er im tiefsten Winter zu Fuß nach Hause – jeden Abend. Heute ist Sophies Vater der einzige in Österreich amtlich beglaubigte Übersetzer für Deutsch-Kambodschanisch. Wie gesagt, der Wille.

Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass ich immer mehr leisten muss, um genau die gleiche Anerkennung zu bekommen." – Sophie Chung

Ein Schnelldurchlauf durch Sophies Biografie: Matura in Linz, stets Klassenbeste, Medizinstudium in Wien mit Aufenthalten in China und den USA, danach einige Monate als Ärztin in Brisbane, viereinhalb Jahre Unternehmensberatung bei McKinsey, Projekte in aller Welt. Weiter, Anfang 2013: zweieinhalb Jahre New York, Arbeit als rechte Hand des CEO von ZocDoc, einem E-Health-Unternehmen, das 2015 mit 1,8 Milliarden Dollar bewertet wurde. Der nächste Schritt dann die Eigengründung in Berlin, Qunomedical.

Genug gerissen für zwei 33-Jährige, könnte man sagen. Was treibt einen dazu? Sophie: "Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass man immer mehr leisten muss, um genau die gleiche Anerkennung zu bekommen. Man ist in der Bringschuld." Es habe immer Zeit gebraucht, bis sie sich irgendwo etabliert habe, selten habe sie Vorschussvertrauen bekommen. Als einziges sogenanntes Ausländer*innenkind in der Schule und als Frau in den Männerdomänen Medizin, Unternehmensberatung und Start-up, wurde Sophie häufig unterschätzt. Doch nicht nur die Twice-as-hard-Mentalität ihrer Eltern hat sie geprägt, sondern auch die Erfahrung von Ausgrenzung und Alltagsrassismus. 

"In der Schulzeit hat das eher meinen Ehrgeiz gepackt"

Nach Sophies Geburt 1983, ziehen die Chungs in eine neue Wohnung. Ein Satz aus dieser Zeit ist ihr in Erinnerung geblieben. "Heute müsst ihr draußen spielen." Er war keine Entschuldigung für ein unaufgeräumtes Wohnzimmer, sondern ein Code für: Das Ausländer*innenkind wollen wir nicht in der Wohnung haben. Ende der 80er, eine gutbürgerliche Siedlung in Linz. Die Chungs sind die Nachbarn, die man nicht grüßt. Die einzigen Migrant*innen sind die Kamboschaner*innen, die mit der dunkleren Haut: "He, ihr Japaner, geht nach Hause."

Ihr Vater, der in der Heimat Mathelehrer war, hat einen Fließbandjob in einer Fertigungshalle angenommen. Später wird er sich selbst programmieren beibringen und für die Stadtbetriebe arbeiten. Sophie und ihr Bruder Anton wachsen mehrsprachig auf, lernen Instrumente und gehen zum Sport. Die Eltern achten darauf , dass die Kinder stets ordentlich gekleidet sind.

Die Insignien einer bürgerlichen Existenz als Ausweis des Dazugehörens, des Doch-gar-nicht-so-anders-Seins. Das funktioniert auf lange Sicht, doch es braucht viel Überzeugungsarbeit. Einmal gehen die Chungs in ein Kleidergeschäft zum Einkaufen und werden einfach nicht bedient. Im Kindergarten machen sich die Kinder über Sophies Aussehen lustig. "Dabei reflektierst du das selbst in dem Alter noch gar nicht." Sie kann sich heute noch erinnern, wie sie damals vor dem Spiegel steht und nicht versteht: "Was an mir sieht jetzt anders aus?"

In der Schule steckt ein Lehrer sie in den Förderunterricht, weil er denkt, dass sie eine Schreibaufgabe nicht richtig verstanden hat. Dabei hatte Sophie sehr wohl verstanden, sie sah nur nicht ein, warum man nicht fünf statt zwei Wörter in eine Zeile schreiben kann. Sie hat ihren eigenen Kopf. Die Grunderfahrung, anders zu sein und sich ständig beweisen zu müssen, ist nicht einfach. Doch Sophie hatte auch immer gute Freund*innen und blickt von heute aus nicht bitter darauf zurück: "In der Schulzeit hat das eher meinen Ehrgeiz gepackt."

Pragmatischer Feminismus: Kommunikationsmuster lernen und sich anpassen

Von diesem Drive, sich gegen die Erwartungen der Umwelt zu behaupten, und der Bereitschaft, sehr hart dafür zu arbeiten, hat Sophie auch auf ihrem weiteren Weg profitiert. "Als Frau lernt man eher Kommunikationsmuster, bei denen man nicht so laut ist, nicht aggressiv ist." Es habe gedauert, bis sie bei McKinsey gelernt habe, wie man sich verhalten müsse, um in Männerrunden wahrgenommen zu werden. Zum Beispiel laut zu sprechen, das habe sie am Anfang Überwindung gekostet, doch es funktioniere. "Man muss auf den Tisch hauen und sagen, hier bin ich, und ich habe auch was zu sagen!"

Sophie hat zunächst einen sehr pragmatischen Ansatz, wenn es um solche Genderfragen geht. Es gäbe eben typisch männliche Kommunikationsmuster, an die man sich als Frau in bestimmten Welten anpassen müsse. "Frauen müssen verstehen, wie sie sich integrieren können und sich dabei treu bleiben." Jedoch, das ist ihr wichtig, auch die Männer müssten reflektieren und die weiblichen Kommunikationsmuster besser verstehen. Integration braucht von beiden Seiten Bewegung.

Kann ich Miss Universe werden?

Dauerzustand Spagat, also im Kopf, das ist für viele Migrant*innen normal. Im Herzen die Heimat, die Fremde vor der Haustür – wo gehört man dann eigentlich hin? Wie lebt man? Und was kommt mittags auf den Tisch? "Meine Mutter hat immer alles gekocht", erzählt Sophie, "Gerichte aus Kambodscha, aber genauso ein tolles Wiener Schnitzel." Ihre Eltern versuchen, das Beste aus beiden Welten zu vereinen. Sie sind mit konservativen Werten groß geworden, doch sie wissen auch, dass hier in Westeuropa teilweise andere Werte gelten.

Die Kinder wachsen mehrsprachig auf, lernen Kambodschanisch, Chinesisch, Englisch und Deutsch. Ihre Vornamen sind kein Zufall, Sophie und Anton. "Die dachten sich, wenn wir schon Chung mit Nachnamen heißen, dann zumindest richtig österreichische Vornamen", sagt Sophie lachend. Ein Kampf sei das in jungen Jahren gewesen, ein Ringen um Identität. "Ich war nirgends wirklich zu Hause, ich war immer anders, auch in Kambodscha." Den Akzent hören ihr die Verwandten an.

Nicht dazugehören, das ist mit das Schlimmste im Jugendalter. Einmal, da sieht Sophie einen Miss-Universe-Wettbewerb im Fernsehen und ihr wird klar: "Daran könnte ich nicht teilnehmen." Für das Land der Vorfahren fehlt der Pass, für ihr Geburtsland das westeuropäische Aussehen. Immerhin, die Eltern pflegen einen offenen Umgang mit diesen Fragen, geben den Kindern Raum sie zu diskutieren, statt starre Grenzen zu ziehen. Heute ist Sophie stolz auf ihre Herkunft. 

Alltagserfahrung als Frau: Boys will be boys

"Sophie, du bist eine sehr attraktive Frau." Mit diesen Worten habe sie kürzlich ein potenzieller Businesspartner beim ersten Telefonat begrüßt. Sophie haut auf den Konferenztisch, als sie davon erzählt. Er habe mehrfach darauf bestanden, sie abends zum Essen einzuladen, statt sich im Büro zu treffen.

Es ist nicht nur das dreiste Verhalten dieses Mannes, das sie aufregt. Mehr noch sei sie enttäuscht davon, wie einer ihrer Investoren reagierte, als sie ihm davon erzählte. Der habe abgewiegelt: "Der ist halt so, das ist halt seine Masche." Ein typisches Muster, um übergriffiges Verhalten von Männern runterzuspielen. Boys will be boys.

So etwas sei nicht ihre typische Erfahrung, sagt Sophie, und sie arbeite mit sehr vielen Männern zusammen, für die es keinen Unterschied mache, dass sie eine Frau sei. Doch klar: Dass Männer Grenzen nicht respektieren und diese Grenzüberschreitungen dann nicht einmal als solche anerkannt und geahndet werden, das müsse sich dringend ändern.

Die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Integration von Geflüchteten, die Digitalisierung des Gesundheitssystems – das sind alles große Räder, an denen es zu drehen gilt, um gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Sophie ist vor großen Herausforderungen nicht bange, sie hat sie ihr Leben lang gesucht – oder die Herausforderungen sie. Und sie hat erlebt, wie harte Arbeit, Durchhaltevermögen und Lernbereitschaft Schritt für Schritt Widerstände auflösen können.

Wenn die Geschwister heute nach Hause fahren, zu ihren Eltern, sind sie everybody’s darling. Die Chungs sind so etwas wie die Vorzeigefamilie in der Siedlung, von allen Seiten respektiert. Die Nachbar*innen, die Sophie früher nicht in die Wohnung lassen wollten, strahlen sie heute an und machen ihr Komplimente für ihre Outfits, für ihre Karriere. Fast ein bisschen wie Überkompensation fühlt sich das dann an. Überkompensation in die richtige Richtung ist auch Fortschritt. Sophie lächelt.