Juri de Marco ist 24 Jahre alt, hat sein Abitur auf einem Musikinternat absolviert und kürzlich seinen Bachelor im klassischen Horn an der Hochschule für Musik Hans-Eisler in Berlin abgeschlossen. Nebenher studierte er Jazztrompete in Leipzig, gründete ein Orchester und spielte in mehreren Ensembles.

Heute sitzt er auf einem ausgeleierten Sofa in einem Neuköllner Café vor mir. Und nein, er trägt weder Lackschuhe noch Hemd. Seine Füße stecken in Turnschuhen, seine zotteligen Haare sind locker zum Zopf gebunden.

"Irgendwann hatte ich genug von unauthentischen Anzugstragenden und klassischer Steifheit," sagt Juri. Der gebürtige Reutlinger wuchs in einer musikalischen Familie auf: Sein Vater ist Filmemacher und Filmkomponist, seine Mutter stellvertretende Solo-Fagottistin in einem Berufsorchester. Das Gefühl für Rhythmus und die Leidenschaft zum Ton ist ihm quasi angeboren. Mit neun Jahren gewann er seinen ersten Wettbewerb, mit zwölf Jahren komponierte er sein erstes Stück.

Alle erwarteten von mir, dass ich nach meinem Abi ein Instrument studiere und meine musikalische Karriere fortsetze."

Kurz vor dem Abitur stellte ein Lehrer Juri vor die Wahl: Abschluss oder Musik. Zu viel Zeit verbrachte Juri auf Orchesterfahrten und Auftritten. Juri entschied sich für die Musik. Und für ein Internat, auf dem er seine erste Jazz-Band gründete.

"Alle erwarteten von mir, dass ich nach dem Abitur klassisches Horn studiere, um meine musikalische Karriere fortzusetzen. Wie es sich eben gehört", erzählt Juri. In ihm regten sich erste Zweifel, ob er sein Leben damit verbringen möchte, in Orchestern zu proben und jeden Tag aufs Neue die selben Noten zu spielen. Er dachte darüber nach, entgegen aller Erwartungen Psychologie oder Kommunikation zu studieren. Irgendwas, was nichts mit Musik zu tun hat.

Dann begann er doch, Horn zu studieren – zu verschwenderisch kamen ihm all die Stunden vor, die er bereits in die Musik investiert hatte. Zufrieden war er damit allerdings nicht. Der Gedanke ließ ihn nicht los, dass er nicht in die klassische Musik gehörte. "Der klassische Musikbetrieb hat die Leidenschaft verloren. Die Musizierenden proben, spielen ihr Stück und gehen nach Hause. Es ist nur noch ihr Handwerk, ein Beruf, um Geld zu verdienen. Alles läuft nach festgefahrenen Strukturen ab. Wer etwas anderes machen möchte, stößt gegen Zenit."

Kein Raum für neue Ideen

Während seines Studiums versuchte er, seine Ideen in universitären Orchestern einzubringen. "Es gibt so kleine Dinge, die man einfach mal ausprobieren könnte: Was passiert, wenn ein Ensemble beim Spielen aufsteht? Was wäre, wenn die Musizierenden mal ohne Dirigent spielen?" Doch seine Versuche blieben ohne Erfolg. Zu anders, zu ungewohnt.

Also fasste Juri den Entschluss, etwas Neues zu schaffen und mit alten Traditionen schlussendlich zu brechen. Das System von innen zu verändern, kam ihm zu kräftezehrend und langwierig vor. Er erzählte allen von seiner Vision, ein Orchester zu gründen, das von Grund auf anders ist. Von der Organisation bis zum Auftritt: Alles sollte neu gedacht werden. Blickkontakt statt Notenständer, Choreografie statt Stühle, Improvisation statt Dirigent.

"Ich möchte beim Musizieren aufstehen, mich bewegen, nicht mehr wie eine Maschine vom Notenblatt spielen. Kaum ein Berufsmusiker oder eine Berufsmusikerin kann heute noch ohne Noten spielen, geschweige denn improvisieren: Das wird heute einfach nicht mehr gelehrt", sagt Juri. Wenn er so begeistert von seinen Ideen erzählt, glaubt man ihm leicht, dass seine Idee auf offene Ohren stieß.

Juri gründete das STEGREIF.orchester

Dann ging alles ziemlich schnell: Im Frühjahr 2015 hatte Juri die konkrete Idee, ein alternatives Orchester zu gründen. Sechs Monate später spielte das Stegreif-Orchester Debütkonzert #freebeethoven im Radialsystem V, einem bekannten Kultur- und Veranstaltungszentrum in Berlin.

"Ich habe glücklicherweise einfach die richtigen Leute kennengelernt und viel Zeit und Engagement investiert. Damals hatten wir drei Tage Zeit, um für unseren ersten gemeinsamen Auftritt zu proben. Andere proben mehrere Monate dafür."

Heute ist das STEGREIF.orchester ein Pool von 24 Musizierenden unter 30 Jahren aus verschiedenen Kontexten – die einen studieren, die anderen arbeiten schon oder sind noch in der Ausbildung. Was sie alle verbindet, ist die Leidenschaft zur Musik und ein gewisses Maß an Professionalität. Klassische Komposition wird ebenso geschätzt wie die freie Improvisation. Vor dem Publikum schöpfen die Musiker*innen alle ihre Stärken und Talente aus. Es wird gesungen, getanzt, improvisiert – alles auf Grundlage klassischer Sinfonien.

Zurzeit ist das Orchester mit dem Stück #freeschubert auf Tour. Sie spielten bereits in der Hamburger Halle 424 und dem renommierten Berliner Konzerthaus. "Es hat sich alles wahnsinnig schnell entwickelt", sagt Juri. "Unsere nächsten Herausforderungen sind Strukturfindung, Etablierung und Finanzierung." Bereits fünf Anträge beim freien Kulturfond lehnte die Stadt Berlin ab. Das Orchester lebt von Spenden und Einnahmen auf Konzerten.

Langfristig möchte Juri das Projekt nämlich nicht nur aus Eigeninteresse vorantreiben. Das STEGREIF.orchester bedeutet für ihn auch: Protest üben. Und zwar an der gesamten Kulturpolitik. Für Projekte freier Musiker*innen sieht die Stadt Berlin kaum finanzielle Unterstützung vor, während etablierte Häuser großzügig subventioniert werden. Das sei eindeutig eine ungerechte Verteilung, meint Juri. Freien Musiker*innen wird kaum Raum geboten, um Ideen zu verwirklichen.

Mit dem STEGREIF.orchester konnte Juri dem klassischen Musikbetrieb bereits zeigen, dass das Orchesterleben auch abseits der gewohnten Strukturen funktionieren kann. "Nun müssen wir uns langfristig in der Szene beweisen und der ganzen Welt zeigen, dass Musik auch anders gehen kann."