Der beißende Geruch von Farbe liegt in der Luft. Eine junge Frau steht auf einer großen Holzleiter und bemalt mit einem feinen Pinsel die Wand eines grauen Hauses. Sie hat die Haare zu zwei Zöpfen geflochten und trägt eine orange Leggins mit einer Schürze darüber. Eine Kappe schützt ihr Gesicht vor der Sonne, die vom wolkenlosen Himmel knallt. Mit dem Pinsel zeichnet sie die Konturen eines schlafenden Mädchens mit roten Haaren, ebenfalls zu Zöpfen gebunden, halb zugedeckt mit einer grünen Decke. "Das ist eine Persönlichkeit, mit der ich seit einiger Zeit arbeite und die ich an verschiedenen Orten in Valparaíso gemalt habe. Ein riesiges Mädchen. Ehrlich, aufrichtig, bescheiden."

Die junge Künstlerin verwandelt triste Gebäude in bunte Fantasiewelten. Sie ist 25 Jahre alt und heißt Magdalena Cañas. Ihr Pseudonym ist MAIDA K. Sie ist eine der wenigen Frauen in der chilenischen Street-Art-Szene. Gebürtig kommt sie aus Curacaví, aus der Peripherie um Chiles Hauptstadt Santiago. Mit 13 Jahren hatte sie zum ersten Mal eine Spraydose in der Hand: Mit ihren Freunden aus der Hip-Hop-Szene zog sie durch die Straßen und sprayte im Schutz der Dunkelheit zunächst Tags an die Wände. Mit ihrem ersten festen Freund lernte sie dann, richtige Graffitis zu sprayen.

"Ich fing mit Kritzeleien an, ohne richtig malen zu können. Nach und nach entwickelte ich meinen eigenen Stil, meine eigene Technik", erinnert sie sich heute. Ihr Stil sei eine Mischung aus Illustration und Realismus, sagt sie. Ihre ästhetischen Vorbilder in der Street-Art-Szene, wie Magdalena Cañas es ausdrückt, seien der italienische Künstler ZED1, der Franzose Seth und der Brasilianer Alex Senna.

Zu den Menschen, die sie wegen ihres Lebenswegs bewundert, und die ihr Kraft geben, gehören Inti Castro und Mono Gonzales – beides berühmte chilenische Straßenkünstler, deren Kunstwerke politische und soziale Themen behandeln. Es gibt auch Frauen, die sie inspirieren. Dazu gehören ANIS und ACB, Künstlerinnen aus Chile. ANIS hat auch schon in Deutschland gemalt, zum Beispiel auf dem Fusion Festival.

Street-Art ist ihr Protest

Magdalena Cañas sagt selbst, dass sie durch das illegale Sprayen mutiger und selbstsicherer geworden ist. "Deshalb gibt es so wenige Frauen in der Szene. Weil viele Frauen unsicher sind. Ich war schon immer etwas waghalsig", sagt sie und lacht. "Für mich ist es wichtig, die Wurzeln der Straßenkunst zu kennen. Ich bin nicht so wie die akademischen Künstler, ich kenne die Straße." Für sie ist schon das Arbeiten im öffentlichen Raum eine Art politischen Widerstands oder Protestes.

Trotzdem entschied sie sich zunächst, nach der Schule Visuelle Künste an der Universität Diego Portales in Santiago zu studieren. Doch während des Studiums geriet sie in eine Existenzkrise: "Was an der Universität gelehrt wird, ist für die Galerien, von Künstlern für Künstler. Ich habe meine Arbeiten meinen Eltern gezeigt und sie verstanden nichts. Da war eine Barriere zwischen mir als Künstlerin und den Betrachtern. Ich sah keinen Sinn mehr in der Kunst." Daraufhin brach sie das Studium ab.

Zudem wurde ihr Vater schwer krank. Sie fing an, mit ihm Aquarellbilder zu malen und merkte, wie gut ihm das Malen tat. Kurz darauf starb er. "Hätte ich früher mit ihm gemalt, hätte er vielleicht länger gelebt", sagt sie nachdenklich. Die Kunst bekam langsam wieder einen Sinn für Magdalena Cañas.

Nach dem Tod ihres Vaters wollte sie einen Neuanfang und zog mit ihrem Freund in die Hafenstadt Valparaíso. Auch als Künstlerin erlebte sie eine Erneuerung. Valparaíso gilt als die Kunst- und Kulturmetropole Chiles. Hier findet man Kunstwerke von Street-Art-Künstler*innen aus der ganzen Welt. Die Stadt liegt an der Pazifikküste und ist bekannt für ihre vielen bunten Häuser, die an den steilen Hügeln zu kleben scheinen.

"Hier habe ich jeden Tag Lust, rauszugehen und zu malen"

2004 nahm die Unesco den historischen Stadtkern in die Liste des Weltkulturerbes auf. Musiker*innen, Schriftsteller*innen und Künstler*innen aus aller Welt tummeln sich in Valparaíso. Ob die Stadt MAIDA K besonders inspiriert? "Ich denke, dass es jeden Künstler inspiriert, von Kunst umgeben zu sein, von Farben, Formen, Architektur", meint sie. "In Santiago habe ich mich nie so gefühlt wie in Valparaíso. Hier habe ich jeden Tag Lust, rauszugehen und zu malen."

Ihr erstes großes Wandbild malte MAIDA K in ihrer Nachbarschaft in Valparaíso bei einer Minga, einer traditionellen Form kommunaler Gemeinschaftsarbeit. Alle Nachbar*innen sammelten gemeinsam Müll auf und verschönerten das Stadtviertel. MAIDA K erarbeitete ein Wandbild mit einer Meerjungfrau, um die Identität der Hafenstadt aufzugreifen. "Es war toll, die positive Reaktion der Nachbarn zu erleben. Das hat mich berührt. Ich entdeckte wieder einen Sinn in meiner Arbeit als Künstlerin­­ – und zwar auf der Straße."

Daraufhin begann sie ihre Kunst nicht mehr als Hobby sondern als Beruf zu betrachten. Das war im vergangenen Dezember. Aber in Chile ist es nicht einfach als selbstständige Künstlerin zu arbeiten und davon leben zu können: "Man braucht viel Selbstdisziplin und körperliche Fitness, denn draußen auf der Leiter an der Wand zu arbeiten ist anstrengend. Ich habe viele andere Hobbys aufgegeben, um mich ganz der Kunst zu widmen. Zum Beispiel das Tanzen. Ich muss mich immer wieder selbst herausfordern."

Manchmal macht Magdalena Cañas auch Auftragsarbeiten. Die Besitzer*innen von Häusern oder Restaurants rufen sie an, damit sie ihre Gebäude verschönert. "Auftragsarbeiten schränken mich natürlich etwas ein. Häufig haben die Besitzer schon genaue Vorstellungen von dem Wandbild, das sie haben wollen. Manche lassen mir aber auch ganz meine Freiheit", sagt sie. Die Auftragsarbeiten erlauben ihr, mit ihrer Leidenschaft ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Im Gegensatz zur Galerie-Kunst werden ihre Bilder in der Öffentlichkeit gesehen und die Menschen reagieren darauf. Und das ist genau das, was ihr an der Straßenkunst gefällt: die Wirkung, die ihre Arbeit auf die Menschen hat.

So wie bei dem Wandbild am oberen Ende der Treppe Héctor Calvo. Die Besitzer*innen wollten ihre graue Hauswand umgestalten. Valparaíso besteht aus 46 Hügeln, deshalb ist die Stadt voller Treppen, die wie Kunstwerke anmuten. Die Treppe Hector Calvo führt auf 185 Stufen hinauf ins Cerro Bellavista, wo sich das Haus des berühmten chilenischen Dichters Pablo Neruda befindet, der 1971 den Literaturnobelpreis erhielt. Die Treppe ist mit Mosaiksteinen verziert, die Gedichte von Neruda erzählen. Die Treppen in Valparaíso verwandeln sich abends und nachts in Treffpunkte für Jugendliche, die hier trinken, rauchen und sich amüsieren. Das hat schon öfter zu Konflikten mit den Nachbar*innen geführt.

"Auf dieser Treppe wird viel gefeiert, es gibt viel Unordnung nachts und das stört die Leute, die hier wohnen. Das Bild ist eine Erinnerung daran, dass hier Kinder schlafen, dass Leute hier wohnen und zu Hause sind", erklärt die Künstlerin mit sanfter Stimme. Das Wandbild, das sie gerade malt, trägt den Namen niña gigante – riesiges Mädchen. Das Mädchen schläft auf der Seite, der Kopf ruht auf der rechten Hand. Eine Katze schlummert zu seinen Füßen. Auf den Beinen liegt ein geöffnetes Buch, als ob es beim Lesen eingeschlafen wäre. Der Stil erinnert an Mangas, die Formen sind kantig, die Gelenke des Mädchens roboterähnlich. "Das Mädchen ist angelehnt an Alice im Wunderland. Ich spiele mit dem Wechsel zwischen der magischen und der realen Welt. Wie viel Magie steckt in der realen Welt, wenn wir lernen, sie wahrzunehmen? Nur wenige haben die Fähigkeit, beide Welten zu bewohnen", erklärt Magdalena Cañas.

Das riesige Mädchen in Serie

Das Mädchen soll die erwachsenen Menschen an das Kindsein erinnern. Für so ein Kunstwerk braucht sie ungefähr eine Woche. Zuerst zeichnet sie einen Entwurf mit der Hand, scannt ihn ein und speichert ihn als Vorlage auf ihrem Handy. In der Regel arbeitet sie mit Spray, Pinsel und Farbrolle. "Ich improvisiere nicht. Im Gegenteil, ich bin sehr akribisch und plane jedes Detail", sagt sie. Das riesige Mädchen ist eine Serie von MAIDA K – sie malt es an verschiedenen Orten in Valparaíso. An einem anderern Ort hat sie das Mädchen mit einer Lupe gemalt, während es ein Insekt beobachtet. Es soll die Menschen dazu aufrufen, die Natur zu beobachten. Ob das Mädchen eine Art Selbstporträt ist? "Darüber habe ich noch nie nachgedacht," sagt sie und lacht, "aber ich denke, dass ein Künstler sich immer selbst porträtiert, denn die Kunst ist der Ausdruck der eigenen Seele."

Kunst sei auch der Ausdruck der Seele einer Gesellschaft.

Wir leben in einem kranken System und die Kunst heilt uns. Sie erinnert uns daran, dass wir lebendig sind."

Wir leben in einer Zeit, in der alle Aktionen des Menschen automatisiert werden, im Dienst der Produktivität. Deswegen ist Kunst für mich Widerstand. Sie ist ein Werkzeug der Selbstermächtigung und der Freiheit. Sie ist die Stimme, die versucht wurde zum Schweigen zu bringen."

Damit meint sie die vielen Wandbilder in Chile, die einen politischen Hintergrund haben. Regimekritische Künstler*innen drückten so einst ihren Widerstand gegen die Militärdiktatur Pinochets aus. "Die Wandmalerei in Lateinamerika hat mit sozialen und politischen Kämpfen zu tun, mit der Einforderung von Rechten." Seit dem Ende der Diktatur in Chile 1990 erlebt die Kunst im öffentlichen Raum einen starken Boom und ist mittlerweile so anerkannt, dass sie nicht mehr bekämpft, sondern sogar gefördert wird. "Ich selbst bin noch auf der Suche nach meiner eigenen politischen Botschaft, die ich ausdrücken möchte. Das ist Teil des Weges in Richtung Selbstermächtigung", sagt Magdalena Cañas nachdenklich.

Ihr zweites Standbein ist die Kinder- und Jugendarbeit, finanziell gesehen und auch was ihre persönlichen Überzeugungen angeht. Sie gibt Kurse in Wandmalerei in Kulturzentren und an Schulen. Die Jugendlichen lernen im Kurs Schritt für Schritt, vom Entwurf bis zur Technik, wie sie ein Kunstwerk an eine Wand bringen. MAIDA K sieht als Dozentin anders aus, erwachsener. Sie trägt ein Wollkleid, Schuhe mit Absätzen und eine Sonnenbrille auf dem Kopf. Für sie ist Kunst auch Verantwortung gegenüber den Betrachter*innen, der Öffentlichkeit, der Gesellschaft: "Ich will etwas mitteilen, etwas hinterlassen. Ich mache Kunst nicht für mich, sondern für die anderen. Die Jugendlichen sind motiviert und haben viele Träume. Ich will ihnen etwas mitgeben, damit sie stark und selbstbewusst werden." Deshalb ist ihr Ziel, in der Zukunft noch mehr Kurse in Wandmalerei zu geben, mit Kindern und Jugendlichen aus ganz Lateinamerika.

Von Sophia Boddenberg auf Deine Korrespondentin.
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