Achtung, Filmquiz: Woher stammt dieses Zitat? "Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus." Richtig, es handelt sich um die berühmte Szene aus Matrix, in der Neo vor die Wahl gestellt wird, ob er die Wahrheit über die düstere, ihn umgebende Welt erfahren, oder, ob er lieber sein ganz normales Leben weiterführen möchte.

Nun, Matrix ist ein Film. Für einige Menschen im echten Leben ist die Metapher aber echter geworden, als sie vermutlich geplant war. "The Red Pill" heißt ein Kanal auf der Online-Community Reddit. Die Männer dort unterhalten sich ganz im Stile von Matrix. Sie glauben, die echte Welt ist eine Scheinwelt. Sie bieten sich gegenseitig an, die bittere Wahrheit zu erfahren, die metaphorische rote Pille zu schlucken. Und manchmal, wenn sie das getan haben, werden sie gewalttätig.

Worum geht es? "The Red Pill" ist ein Kanal der Forengemeinschaft Reddit, die sich lose der sogenannten Männerrechtsbewegung zuordnen lässt. Das böse System, die angebliche Scheinwelt, ist für die Männer dort unter anderem der Feminismus. Ihrer Meinung nach sei dieser nur dazu da, Männern ihr Recht auf Sex mit Frauen zu verwehren. Die schmerzvolle Einsicht, die rote Kapsel, lautet: Die meisten Frauen sind oberflächlich, stehen auf Alphamännchen, und wer das nicht ist, wird für immer sexlos bleiben. Feministische Erzählungen sind die Märchen, die Männer vor dieser Einsicht bewahren sollen. In Wahrheit haben die meisten Frauen die Kontrolle – immer.

Kusslose, umarmungslose Jungfrauen

Daraus hat die Online-Community ein echtes System entwickelt. Den sexuellen Marktwert, den SMV (Sexual Market Value) beispielsweise, oder eine bestimmte Anordnung der Augen, die ihrer Meinung nach maßgeblich dazu beiträgt, bei Frauen als attraktiv wahrgenommen zu werden (cantal tilt). Das alles soll den Erleuchteten zeigen: Es gibt nur zwei Sorten von Menschen. Die einen sind schön und haben Sex, die anderen werden dies nie erreichen. Das untere Ende der Incel-Skala lautet KHHV: kissless, handholdless, hugless virgin – ein (Hetero-)Mann, der noch nie irgendeine intime körperliche Erfahrung mit dem anderen Geschlecht machen konnte.

Männer in dieser Community, die aus welchen Gründen auch immer keinen Erfolg bei Frauen haben, beschreiben sich selbst als "Incels". Das Kofferwort meint "involuntary celibacy", also unfreiwilliges Zölibat, widerwilliger Verzicht auf Sex. Den bekommen andere. Die nennen sie "Stacys" und "Chads". Chad und Stacy sind bekannte amerikanische Vornamen für Frauen und Männer, die stereotyp erfolgreich und schön sind. Sie verkörpern ein Ideal, was viele aus amerikanischen Highschool-Filmen kennen: Die schlanke, blonde Cheerleaderin und der durchtrainierte, charismatische Football-Profi.

Die sexuell Aktiven, das sind die Feindbilder der Incels. Immer wieder schildern sie auch über "The Red Pill" hinaus, in Foren wie incels.me, ihren Frust über die eigene, wahrgenommene Unattraktivität und das vermeintlich ausweglose, sexlose Dasein. Einige berichten von Selbstmordgedanken, da sie ihrer als unzureichend wahrgenommenen Attraktivität nicht entfliehen können. Dann sprechen sie von der "black pill".

Wenn die Aussichtslosigkeit so tief sitzt wie bei der "black pill", können Incels zu Mördern werden. Im Jahr 2014 tötete der Student Elliot Rodger im kalifornischen Santa Barbara sechs Menschen und anschließend sich selbst. Zuvor hinterließ er ein Video-Statement und ein Manifest, in dem er seine Mordakte als Racheakt für jahrelange sexuelle Zurückweisung von Frauen beschreibt. Innerhalb der Incel-Szene wird er zuweilen als Held gefeiert. Erst dieses Jahr starben durch einen weiteren, ähnlichen Anschlag zehn Menschen im kanadischen Toronto. Der Mörder hinterließ zuvor auf seiner Facebookseite ein Statement, in welchem er den Beginn der Incel-Rebellion einläutete und sich positiv über Elliot Rodger äußerte.

Ich bin ein Gentleman – wieso wollt ihr mich nicht?

Was macht Sex, Zuneigung, Intimität für diese Männer so enorm wichtig, dass sie bereit sind, dafür zu töten? Der Soziologe und Sozialpsychologe Rolf Pohl forscht seit Jahren zum Thema Geschlecht. Zum männlichen Hass auf Frauen hat er unter anderem ein Buch geschrieben. Er geht davon aus, dass Männer eine Sexlosigkeit vor allem deswegen so vernichtend empfinden, weil es der zentrale Schwachpunkt ihrer Männlichkeit ist. Einer Frau hilflos ausgeliefert zu sein, widerspricht dem, was selbst unsere moderne Gesellschaft von einem Mann erwartet: "Der Mann ist in diesem Sinne nicht nur von einem Begehren, sondern auch von dem Objekt seiner Begierde abhängig. Sie kontrolliert ihn. Nirgendwo ist die Gefahr einer Schwächung größer als auf dem Feld der Sexualität.".

Wenn die Zuneigung von Frauen ausbleibt, muss eine Erklärung her. Elliot Rodger bezeichnete sich regelmäßig als obersten Gentleman, beschrieb sich als manierlich und attraktiv. Dass den Sex in seinem Umfeld trotzdem die anderen, schlechteren Männer haben, konnte er sich nur so erklären, dass keinesfalls er, sondern die Frauen Schuld tragen müssen.

Nach dieser Logik funktionieren längst nicht nur amerikanische Männerrechtsbewegungen. Schon auf incels.me wird deutlich, dass hier viele Deutsche auf Englisch unter Decknamen schreiben. Ein eigenständiges deutsches Incel-Forum gibt es noch nicht, bekannt ist höchstens das harmlose Forum Abtreff, dass Menschen mit wenig oder keiner Beziehungserfahrung zusammenführen will. Die deutsche Szene der sogenannten Pick-Up-Artists treibt jedoch eine ähnliche Motivation, wie die der Incels. Pick-Up-Artists sind Menschen, die sich über psychologische Tricks Zugang zu Dates und Sex mit Frauen verschaffen wollen. In Online-Foren tauschen sie sich beispielsweise über Fitnesstraining, aber auch über manipulative Gesprächsführung aus.

Absurde Männlichkeit macht Mörder

Die Szenen eint, dass sie Frauen als Objekte sehen, die Sex zur Verfügung stellen, als wäre es eine natürliche Ressource. Während Incels sich damit abfinden, dass sie die ihrer Meinung nach lebensnotwendige Zuneigung unrechtmäßig nie bekommen werden, sind sich Pick-Up-Artists einig, dass es dafür nur die richtige Methode braucht. Auch sie gehen davon aus, dass Bewegungen wie der Feminismus eine Bedrohung sind, die das Recht auf Sex für Männer einschränken wollen.

Frauenhass gab und gibt es schon immer. Schon der Amokläufer Anders Breivik schrieb in seinem Manifest über die Bedrohung des Feminismus. Die Nähe zu rechtsextremen, fanatischen Bewegungen ist oft nicht zufällig. Was diese Männer ängstigt, ist der Verlust ihrer Macht. Gleichberechtigte Frauen, die über ihren Körper selbst bestimmen, sind für sie eine Katastrophe. Um diesen Machtverlust auszugleichen, greifen sie im Zweifelsfall zur Waffe. Dann sind sie wieder die starken Alphamännchen, die über Frauenkörper richten können. Wir müssen dringend über Männlichkeit sprechen, bevor noch mehr rote oder schwarze Kapseln geschluckt werden.