"Könnten Sie die Dame in Braun fragen, ob der Platz neben ihr noch frei ist?" Ein Mann Mitte 30 stellt diese Frage immer wieder. Zuerst hört ihm niemand zu. Alle Frauen in der Reihe im Kinosaal sind in Gespräche vertieft. Es ist die Premiere eines feministischen Films. Freie Platzwahl. Viele Besucher*innen sind schon früh in den Saal gegangen, um sich einen guten Platz zu sichern. Der Mann stellt seine Frage so oft, bis schließlich alle zu ihm blicken und die Frage bei der "Dame in Braun" angekommen ist. Ja, der Platz sei frei, sagt sie. Er setzt sich nicht, sondern richtet wieder das Wort an die gesamte Reihe. "Könnten Sie alle einen Platz weiter rücken?" Rund zehn Frauen in der Reihe blicken sich verdutzt an, packen ihre Jacken und Taschen, nehmen die Getränke und Snacks vom Boden und bewegen sich. Ein zweiter Mann kommt dazu, die beiden nehmen auf den Plätzen außen Platz.

Den ganzen Film über geht mir die Szene nicht aus dem Kopf. Es war, als hätte Ruth Bader Ginsburg zu uns gesprochen. Uns, die nächsten Generationen von Feminist*innen ermahnt: Wir sind noch lange nicht fertig, wir müssen weiterkämpfen. Grundsätzlich ist die Situation unspektakulär und die Bitte erfüllbar, aber denkt man etwas darüber nach, sagt es viel über unsere Gesellschaft aus. Der Mann kommt fünf Minuten vor Beginn in den Saal und fordert mit einer Selbstverständlichkeit die Aufmerksamkeit einer ganzen Reihe. Er nimmt ohne Zögern in Kauf, mit seiner Bitte alle zu unterbrechen, um zu bekommen, was er will. Wie viele Frauen würden sich so verhalten?

Eine Richterin, eine Feministin, eine Ikone

Im Film, den wir uns dann nebeneinander ansehen, kommen solche Situationen immer wieder vor. Die Berufung - Ihr Kampf für Gerechtigkeit von Mimi Leder nach einer wahren Begebenheit spielt in den 1950er Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika. Frauen dürfen weder als Polizeibeamtinnen arbeiten noch in Princeton studieren. Ruth Bader Ginsburg will diese Welt verändern. Sie studiert als eine von neun Frauen Jura an der Elite-Universität Harvard. Nach ihrem Abschluss als Jahrgangsbeste muss sie sich mit einer Stelle als Professorin zufriedengeben, obwohl sie lieber die Gerichtssäle erobern würde – ein Privileg, das ihren männlichen Kollegen vorbehalten ist.

Durch ihren Mann und Steueranwalt Marty wird sie eines Tages auf den Fall Charles Moritz aufmerksam. Trotz der aufopfernden Pflege seiner kranken Mutter wird Moritz nicht der übliche Steuernachlass gewährt – aufgrund seines Geschlechts. Pflege sei demnach ein rein weibliches Engagement. Ruth wittert einen Präzedenzfall. Die Juristin zieht in den 1970er Jahren schließlich mit eisernem Willen vor Gericht und beginnt den Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen und Männern, den sie bis heute kämpft. Der Film beruht auf einer wahren Geschichte. Seit 1993 ist Ruth Bader Ginsburg auch Beisitzende Richterin am Supreme Court, wo sie lange die einzige Frau war.

Ruth Bader Ginsburgs Kampf heute wieder aktuell

Heute, über 50 Jahre nach dem Kampf vor Gericht, wird ihre Geschichte wieder erzählt. Das hat Gründe. In den USA hat Präsident Trump durch seine frauenfeindliche und diskriminierende Politik sowie die Ernennung von Brett Kavanaugh als obersten Richter mittlerweile aber eine Ära des weiblichen Widerstands erschaffen. In Deutschland wurde ein Kompromiss zum Paragrafen 219a beschlossen, der die Selbstbestimmung von Frauen begrenzt. Das sind nur zwei aktuelle Beispiele.

Das Biopic wird in klassischer Hollywood-Manier erzählt, man fiebert mit der Heldin des Films bei ihren Tief- und Höhepunkten mit. Scharfsinnigkeit und Tiefe sind nicht die Stärken des Films. Was leider untergeht, ist das Aufzeigen der Bedeutung des Civil Right Movements in Ginsburgs Arbeit. Die US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin und Anwältin Pauli Murray beeinflusste Ginsburgs Arbeit beispielsweise immens. Einige der juristischen Vorschläge kamen von ihr. Im Film kommt sie nur in einer Szene vor, als Ginsburg für den Auftritt vor Gericht probt. Dabei wäre auch Murrays Geschichte erzählenswert: Sie war die erste afroamerikanische Frau, die Bischofspriesterin wurde und die erste afroamerikanische Frau, welche die Yale Law School mit dem Doktor der Rechtswissenschaften abschloss. Alles was Ginsburg erreichte, erreichte sie nicht allein. Dass nicht mehr von der Unterstützung im Film zu sehen ist, ist zu verkürzt und Whitewashing.

Alles was Ginsburg erreichte, erreichte sie nicht allein.

Trotzdem taugt Ruth Bader Ginsburg auch heute noch als Vorbild. Sowohl Feminismus als auch Chancengleichheit müssen mehr beinhalten als den Kampf für die Rechte der Frauen. Feminismus kann nur intersektional, also unterschiedliche Formen der Diskriminierung mitdenkend, funktionieren und das thematisiert der Film zu wenig. Viele der Szenen zeigen Ruth Bader Ginsburg als einzige Frau im Hörsaal, in Kanzleien oder vor Gericht. Für People of Color, Menschen mit Behinderung, Menschen mit Migrationsgeschichte und LGBTIQA sieht der Alltag heute noch so aus: Oft sind sie die Einzigen. Wie Ginsburg fallen sie automatisch auf, müssen sich eher beweisen und werden eher hinterfragt.

Seit Ruth Bader Ginsburg begonnen hat, für Gerechtigkeit zu kämpfen, ist viel passiert. So feiern wir zum Beispiel 100 Jahre Frauenwahlrecht. Trotzdem sind wir von Gleichberechtigung und Chancengleichheit zwischen den Geschlechtern und den Menschen immer noch meilenweit entfernt. Frauen verdienen für die gleiche Arbeit immer noch weniger Geld, in Führungspositionen in der Wirtschaft und Politik sitzen mehr Männer als Frauen, unsere Sprache ist nicht gendergerecht und Frauen machen immer noch einen größeren Teil an Haushalts- und Familienarbeit.

Heute wird das Gesetz oft missbraucht, um zu behaupten, dass Gleichheit bereits für alle bestehe. Dass niemand in der Gesellschaft diskriminiert oder ausgeschlossen werde. Dass jede*r die gleichen Chancen habe. Aber nur weil das Gesetz die Menschen gleichstellt, bedeutet das nicht, dass alle Menschen gleichberechtigt sind. Die Geichstellung muss auch in der Gesellschaft passieren.

Passiert das nicht, wird es immer die geben, die sich einfach nehmen, was sie wollen. Und die, die still Platz machen und weiterrücken, anstatt darauf zu beharren, was ihnen gehört.