Seit 21 Jahren leitet Christian Koch die Krimibuchhandlung Hammett in Berlin-Kreuzberg. Rund 7.000 Bücher hat er in seinem 35 Quadratmeter großen Laden stehen. Natürlich hat er nicht alle gelesen – aber viele. "Ich lese pro Woche zwei Krimis", sagt er. Für ze.tt stellt er einmal im Monat seine drei liebsten Neuerscheinungen vor.

Guillermo Martínez: Der Fall Alice im Wunderland

Worum geht es?

Die Lewis-Carroll-Bruderschaft ist in Oxford einer Sensation auf der Spur: Aus dem Tagebuch des weltberühmten Schöpfers von Alice im Wunderland ist eine bis dato verschollene Seite aufgetaucht, die offenbart "wie schuldig oder unschuldig Carrolls Liebe zu kleinen Mädchen war". Doch kaum ist diese Nachricht im engsten Kreis bekannt geworden, ereignet sich eine Reihe von Anschlägen und Morden. Wie schon Jahre zuvor müssen Arthur Seldom, Professor für Logik, und ein junger argentinischer Mathematikdoktorand scharf kombinieren.

Wer hat es geschrieben?

1962 in Argentinien geboren, lebt und schreibt Guillermo Martínez nach zweijährigem Aufenthalt in Oxford wieder in Buenos Aires. Seine Berufe sind Mathematiker und Schriftsteller. Passender als in seinem Fall kann man zwei unterschiedliche Seelen wohl kaum miteinander verbinden.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Für mich ein besonderes Revival-Leserlebnis! Vor ziemlich genau 15 Jahren erschien mit Die Pythagoras-Morde (heute Die Oxford-Morde) das erste übersetzte Buch von Guillermo Martinez. Damals ein besonderer Kriminalroman, weil er Traditionelles mit Modernem auf ungewöhnliche Art vermischte. Wer traute sich denn zu dieser Zeit, einen Rätselkrimi mit geradezu mathematisch anmutender DNA zu schreiben? Faszinierend ist im aktuellen Kriminalroman die Art und Weise, wie sich Martínez dem Denkmal Lewis Carroll nähert und keine Scheu hat, das bisher herrschende Bild über ihn zu hinterfragen.

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Ein Denkmal zu stürzen oder es zumindest zu erschüttern, ist ja tagesaktuell, mehr geht kaum. Was wie ein gemütlicher Lesespaß für die Stunden am Kamin erscheint, entwickelt sich zu einem Exkurs über verborgene und auch offen gezeigte Pädophilie.

Wie viele Punkte?

9 von 10 Punkten.

Robert McCammon: Boy's Life – Die Suche nach einem Mörder

Worum geht es?

Wir befinden uns im Jahr 1964, Cory Mackenson ist zwölf Jahre alt, lebt in Zephyr, Alabama und erzählt gerne Geschichten. In dem Städtchen gibt es einen Milchbetrieb und eine Papierfabrik. Für alles darüber hinaus muss man selbst sorgen. Als eines Tages ein Auto von der Straße direkt in einen See rast und versinkt, ist klar, dass es sich um ein Verbrechen handelt. Cory und sein Vater sind Zeugen des Vorfalls und das Ereignis lässt sie von diesem Moment an nicht mehr los.

Wer hat es geschrieben?

Robert McCammons Wurzeln liegen im Horrorbereich. Er prägte diese Szene in den USA von den ausgehenden 1970er-Jahren bis in die frühen 1990er-Jahre. Sein Werk ist durchaus mit dem von Stephen King zu vergleichen. Vielseitig und mutig mixt er die Genres Mystery, Horror und Krimi. Boy's Life schrieb er im Original schon 1991. Die alte Ausgabe hatte den eigenartigen Titel Unschuld und Unheil. Erst vor Kurzem wurde es für den deutschsprachigen Markt neu übersetzt – und bislang kaum wahrgenommen.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Jung, geborgen und nahe an Meisterwerken wie Harper Lees To Kill A Mockingbird und Joe R. Lansdales Wälder am Fluss. Auf 580 Seiten sind hier Geister, teuflische Pfarrer, raue Westernhelden und eigenartig lebendige Fahhräder mit im Spiel. Nichts davon erstaunt, alles passt in diese Welt. Magischer Realismus mal von der nordamerikanischen Seite.

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Weil es Mut macht, ehrlich über Unvollkommenes warmherzig erzählt und letztendlich eine der ergreifendsten Vater-Sohn-Geschichten ist. Und ein verdammt guter Kriminalroman über den Zauber, der dem täglichen Leben innewohnt, über die vielen Wunder und schmerzlichen Erfahrungen des Erwachsenwerdens und die tiefe Schönheit um uns herum, die wir doch so oft übersehen.

Wie viele Punkte?

9 von 10 Punkten.

William Boyle: Eine wahre Freundin

Worum geht es?

Ein außergewöhnliches Frauentrio in New York, das den Fängen gewalttätiger Männer aus seiner Vergangenheit zu entkommen versucht. Rena Ruggiero ist nach einer aus Notwehr begangenen Gewaltat auf der Flucht. Ihre 15-jährige Enkelin Lucia stößt dazu und vervollständigt wird das Trio dann durch Lacey Wolfstein, Betrügerin und pensionierter Pornostar. Ein gestohlener Koffer voller Geld, ein begehrter 62er Impala-Oldtimer, renitente Mitglieder einer Brooklyner Mafiafamilie und noch viel mehr bildet den Hintergrund dieses mehr als turbulenten Kriminalromans.

Wer hat es geschrieben?

William Boyle wuchs seit 1978 in New York auf und lebt heute in Oxford, Mississippi. Er hat bisher fünf Romane geschrieben und ansonsten ist erstaunlich/erfreulich wenig über ihn bekannt. Er hat eine große Fangemeinde in Frankreich, die Zeitung Le Figaro stellt ihn in die Nähe der großen Kollegen Elmore Leonard, Dennis Lehane und George Pelecanos.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Wie immer bei sehr guten Kriminalkomödien, in denen doch auch mehr steckt, nämlich grandios! Nicht nur die Filmmusik von Jackie Brown ging mir beim Lesen öfter durch den Kopf, auch diverse Szenen aus den anderen Werken von Quentin Tarrantino oder auch John Ridley.

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Ein Kriminalroman, der den Wert von Freundschaften und sozialem Umfeld benennt und eindringlich vor Augen führt. Zudem extrem mutmachend, auch, oder gerade bei Chancenlosigkeit. Eine mittelgroße Portion Anarchie kann nicht schaden …

Wie viele Punkte?

8 von 10 Punkten.