Seit 21 Jahren leitet Christian Koch die Krimibuchhandlung Hammett in Berlin-Kreuzberg. Rund 7.000 Bücher hat er in seinem 35 Quadratmeter großen Laden stehen. Natürlich hat er nicht alle gelesen – aber viele. "Ich lese pro Woche zwei Krimis", sagt er. Für ze.tt stellt er einmal im Monat seine drei liebsten Neuerscheinungen vor.

Maria Lazar: Leben verboten!

Worum geht es?

Berlin in den frühen 30er-Jahren. Der Bankier Ernst von Ufermann steht nach dem Börsencrash kurz vor der Pleite. In Frankfurt sollen finale Gespräche über einen rettenden Kredit für sein Bankhaus stattfinden. Weil ihm am Flughafen Tempelhof ein Taschendieb Geld und Ticket stiehlt, verpasst er die Maschine. Kurze Zeit später berichten die Zeitungen und das Radio vom Absturz des Flugzeugs und seinem vermeintlichen Tod. Alle Passagier*innen sind verbrannt und nicht zu identifizieren. Von Ufermann reist unter anderem Namen nach Wien und beobachtet das weitere Geschehen aus der Ferne. Selbst seine Familie geht von seinem Tod aus. Eine Versicherungssumme in Millionenhöhe steht kurz vor der Auszahlung.

Wer hat es geschrieben?

Die jüdische Autorin wurde 1895 in Wien geboren. 1933 ging sie ins dänische Exil. Dänemark – Maria Lazar schrieb diesen Roman 1932 – hatte aber während der Herr*innenschaft der Nationalsozialist*innen keine Chance, ihre Werke im deutschsprachigen Raum zu veröffentlichen. Bisher gab es den Roman nur in einer englischsprachigen Ausgabe. 1948 starb Lazar in Schweden.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Wie ein Entdecker! Voller Aufregung ob des Lesens dieses fast vergessenen Textes. Eine Zeitreise ins Berlin beziehungsweise Wien der frühen 30er-Jahre. Immer wieder bezieht sich Lazar in ihrem Text auf konkrete politische Begebenheiten wie etwa den Mord an dem jüdischen Journalisten Hugo Bettauer. Trotzdem finden sich auch Leichtigkeit und Esprit in diesem Buch. Und eben extrem genaue Beschreibungen der Menschen und ihrer Handlungen in der Zeit der beginnenden braunen Katastrophe.

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Passenderweise ist der Roman in einem österreichischen Verlag mit dem Namen Das vergessene Buch erschienen. Mit ihrer politischen Hellsichtigkeit hat Lazar früher als viele andere die konkrete Gefahr der Deutschnationalen für den gesellschaftlichen Frieden erkannt, wurde damit auch in Österreich nicht gerne gehört. Zeitlos aktuell ist das Buch, weil auch heute noch vielen Menschen weltweit Leben verboten! ist.

Wie viele Punkte?

9 von 10 Punkten.

Zoë Beck: Paradise City

Worum geht es?

Deutschland in der nahen Zukunft. Nach Naturkatastrophen und Pandemien (!) werden die Bewohner*innen durch eine Gesundheits-App mit Belohnungs- und Bezahlsystem gelenkt. Medien werden zentral gesteuert, nur am Rand der Gesellschaft gibt es noch die sogenannte Wahrheitspresse, die von klassisch arbeitenden Journalist*innen betrieben wird. Berlin ist nur noch das Zentrum für Tourist*innen, Frankfurt die neue Regierungshauptstadt. Liina, Rechercheurin bei einem der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenportale, wird in die Uckermark geschickt, um eine – wie sie glaubt – völlig banale Meldung zu überprüfen. Doch während sie mürrisch ihren Job macht, stirbt eine Kollegin und ihr Chef hat einen merkwürdigen Unfall. Beide waren an einer Story dran, die eigentlich Liina zugesagt war.

Wer hat es geschrieben?

Zoë Beck arbeitet als Schriftstellerin, Verlegerin, Übersetzerin aus dem Englischen und Synchronregisseurin. Zuletzt erschien bei Suhrkamp ihr Thriller Die Lieferantin, darin geht es um eine extrem modern arbeitende Drogendealerin in London.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Paradise City hat mich mehrmals, der Aktualität wegen, erschrocken zurückgelassen. Das Buch dürfte von Zoë Beck 2018 und 2019 geschrieben worden sein, also lange vor der Corona-Pandemie. Der vermutlich aktuellste gesellschaftsbeleuchtende Roman der jetzigen Zeit! Eine ganz eigene Faszination, erreicht durch die Mischung aus Realität und Fiktion, liegt hier vor.

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Pandemie, Apps, Kontrolle waren noch nie solche Schlagworte wie jetzt in Zeiten von Covid-19. "Der Roman zur Zeit" ist hier definitiv mehr als nur ein Werbeschlagwort des Verlags. Wann lesen, wenn nicht jetzt?

Wie viele Punkte?

8 von 10 Punkten.

Hideo Yokoyama: 50

Worum geht es?

Der Polizist Kaji aus der Präfektur W. hat seine Frau umgebracht. Kein Mord, sondern eine Tötung auf Verlangen, tatsächlich ein Akt des Mitleids. Kajis Frau litt an Alzheimer, und sie wollte sterben, bevor sie ihren Sohn, der Jahre zuvor an Leukämie gestorben war, vergessen würde. Sie wollte die Welt als Mutter verlassen. Doch so klar die Tat und das Motiv sind, bleiben doch genug Rätsel. So werden die zwei Tage zwischen Tat und der Selbstanzeige zum Spannungsmoment des ganzen Romans. Ein tiefer Einblick in die aktuelle japanische Gesellschaft und Kultur.

Wer hat es geschrieben?

Hideo Yokoyama ist in Japan einer der Stars der dortigen Krimiszene. Hier wurde mit 50 jetzt sein Debütroman veröffentlicht, geschrieben vor dem mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten 64 und auch 2. Erfreulicherweise hat der Atrium Verlag 50 aus dem originalsprachlichen Japanisch übersetzen lassen und nicht wie vorher die englische Übersetzung als Grundlage genommen.

Wie habe ich mich beim Lesen gefühlt?

Ein Roman wie eine Reise! Du tauchst in das Japan von heute ein und quasi nebenbei erfährst du vieles über das Alltagsleben und auch die vollkommen andere Stellung der dortigen Polizei in der Gesellschaft. Yokoyamas Erzählweise beschäftigt sich ausschließlich mit der Frage nach dem "Warum", nicht mit dem "Wer".

Warum dieses Buch in diesen besonderen Zeiten?

Aktuell ist das Reisen stark eingeschränkt. Umso wichtiger sind Alternativen wie dieser Roman, um das eigene, eingeschränkte Umfeld doch verlassen zu können. Ein Buch wie wohltuende Medizin.

Wie viele Punkte?

8 von 10 Punkten.