Ein Mann in einem traditionellen Gewand sitzt mit zwei Frauen zusammen, raucht E-Zigarette und unterhält sich auf Französisch. Es handelt sich um Ludovic-Mohamed Zahed, den ersten offen schwulen Imam Europas. An diesem warmen Wochenende im April ist er in die Ibn Rushd-Goethe Moschee in Berlin gekommen, um mit queeren Muslim*innen über ihr Leben und ihr Verhältnis zum Glauben zu sprechen.

Wie leben queere Muslim*innen?

Die Moschee ist für ihr liberales Islamverständnis bekannt. Hier beten Männer und Frauen gemeinsam, es herrscht kein Kopftuchzwang und auch queere Menschen sind willkommen. Für diesen weltoffenen Islam, der unter Imamin Seyran Ateş vertreten wird, steht die Moschee besonders bei konservativen Muslim*innen in der Kritik. Die Veranstaltung, die an diesem Abend in der Moschee stattfindet, würde in diesen Kreisen vermutlich auf Ablehnung stoßen. Nachdem Zahed das ganze Wochenende über Workshops und Gesprächsrunden angeboten hat, finden sich an diesem Abend alle Interessierten zur Queer Muslim Night zusammen. Das Zusammentreffen findet in einem hellen Raum im obersten Stockwerk der Moschee statt, am Kopfende des hellen Raums ist ein provisorisches Buffet mit Mineralwasser, Tee und Erdnussflips aufgebaut. Neben der Tür hängt ein Kalender mit interreligiösen Feiertagen.

Etwa 15 Menschen sind heute hergekommen. Sie stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich, im Hintergrund spielt türkische Popmusik. Die Stimmung im Raum ist irgendetwas zwischen einer WG-Party und einem Networkingevent nach einer Konferenz. Es wird über Gentrifizierung in Berlin und Istanbul gesprochen, über Essensbilder auf Instagram, Solarenergie und Unikurse. Aber eben auch über patriarchale Strukturen in Religionen, die Bedeutung von Maria in unterschiedlichen religiösen Schriften und über Interpretationsmöglichkeiten verschiedener Koranstellen. Über die Frage, was es bedeutet religiös und queer zu sein. Jemand zitiert Marx. Keine der anwesenden Frauen trägt ein Kopftuch.

Der erste schwule Imam Europas

Zahed geht von einer Gruppe zur nächsten und unterhält sich mit den Anwesenden. Viele sind heute Abend seientwegen gekommen. Seine Lebensgeschichte klingt wie der Stoff, aus dem Drehbücher gemacht werden: In seiner Jugend wurde der Franzose mit algerischen Wurzeln von seinem Vater und Bruder bedroht, weil sie sein Verhalten als nicht männlich genug empfanden. Als junger Mann schloss er sich einer salafistischen Gruppierung an und verliebte sich dort in einen seiner Glaubensbrüder. Er begann stark mit sich und seiner Homosexualität zu hadern und realisierte erst durch eine Fernsehshow über schwule Paare, dass es noch mehr Menschen wie ihn gab. Dass seine Sexualität etwas Normales, Natürliches war und er sich nicht verstecken musste.

Als junger Mann schloss er sich einer salafistischen Gruppierung an und verliebte sich dort in einen seiner Glaubensbrüder.

Die in manchen muslimischen Kreisen gelebte Homofeindlichkeit, der Zahed begegnete, sorgte dafür, dass er sich von seinem Glauben distanzierte. Er zog nach Paris und lebte seine Sexualität aus, bemerkte aber mit der Zeit, dass ihm trotz all der neuen Freiheit etwas fehlte. Die Annahme, dass man Homosexualität und den Islam nicht miteinander vereinbaren könne, stürtze ihn in tiefe Verzweiflung. Mit der Zeit wurde seine Sehnsucht nach dem Halt, den sein Glaube ihm gab, zu groß und er wandte sich noch einmal dem Islam zu, erstmal auf einer wissenschaftlichen Ebene. Seine Doktorarbeit schrieb Zahed über das Verhältnis von Homosexualität und Islam. Er realisiert, dass das Verbot von Homosexualität nicht aus dem Koran stammte, sondern nur eine der Interpretationsmöglichkeiten war. Anstatt auf Hass stieß Zahed auf Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Er fand zurück zu seinem Glauben und ließ sich sogar zum Imam ausbilden – als erster offen schwuler Imam Europas.

2012 gründete er in Paris die erste Moschee für queere Muslim*innen, traute gleichgeschlechtliche Paare und veröffentlichte ein Jahr später das Buch Queer Muslim Marriage. Er selbst heiratete in Frankreich, einige Jahre später wurde die Ehe geschieden. Heute bietet Zahed internationale Imamausbildungen an, in denen ein progressiver, inklusiver Islam im Mittelpunkt steht. Die Unterrichtsstunden werden über Skype abgehalten, regelmäßig gibt es Workshops in Großstädten Europas, dieses Wochenende in Berlin.

Homosexualität als Sünde?

Noch heute steht Homosexualität in mehreren arabischen Ländern unter Todesstrafe, darunter Saudi-Arabien, der Jemen und die durch den sogenannten Islamischen Staat (IS) besetzten Zonen in Syrien und dem Irak. Was diese Gebiete eint ist die Tatsache, dass sie muslimisch geprägt sind. Ist der Islam also eine homofeindliche Religion?

Wer über Homosexualität im Islam spricht, beruft sich meist auf die Geschichte von Sodom und Gomorrha, die auch im Juden- und Christentum eine wichtige Bedeutung hat. Da sich nicht genügend gute Menschen in Sodom finden ließen, machte Allah die sogenannte Stadt der Sünde mit all ihren Bewohner*innen dem Erdboden gleich. Ob das allerdings geschah, weil Menschen in Sodom gleichgeschlechtlichen Sex hatten oder es daran lag, dass sexualisierte Gewalt und rituelle Vergewaltigungen in der Stadt an der Tagesordnung waren, wird von verschiedenen Strömungen des Islams unterschiedlich ausgelegt. In den Übersetzungen konservativer Anhänger*innen des Islam wird Sodom als Stadt der Sünden mitunter zur Stadt der Homosexuellen erklärt. So verfestigen sich homofeindliche Weltbilder immer tiefer in einigen der Ausrichtungen des Islam. Ein explizites Verbot von Homosexualität findet man allerdings an keiner Stelle des Koran. Dafür tauchen transsexuelle Elemente in der heiligen Schrift auf. So wird an einer Stelle des Koran davon berichtet, dass der Prophet auch "Menschen zwischen Mann und Frau" offen in seinem Haus empfangen haben soll.

Interreligiöse Verständigung

Alle Menschen offen zu empfangen – das ist auch das Ziel der Queer Muslim Night. Das gilt natürlich auch für Personen nicht-muslimischen Glaubens. Wie zum Beispiel für Jacq Carver. Carver ist jüdisch, nicht-binär und wurde von Zahed eingeladen, einen Vortrag über Transgenderelemente in der Thora zu halten. Die beiden kennen sich schon seit längerem und sind immer wieder überwältigt davon, wie viel sie gemeinsam haben.

Carver nippt an einem Tee und kommt mit zwei anderen Besucher*innen ins Gespräch über die Akzeptanz queerer Identität. "Wusstet ihr, dass in der Thora sechs Geschlechter unterschieden werden?" – Sechs Geschlechter? Christian Awhan Hermann ist beeindruckt. Er erzählt, dass er seine Facebookbeiträge seit einiger Zeit gendern würde und einigen Bekannten noch erklären müsse, warum. Auf dem Kopf trägt Hermann eine Takke, wie die muslimischen Gebetsmützen genannt werden. Er ist einer der Schüler Zaheds und erst vor eineinhalb Jahren zum Islam konvertiert. Seine Begeisterung für die Religion war so groß, dass er sich nach recht kurzer Zeit dafür entschied, eine Ausbildung zum Imam zu beginnen.

Ein verrückter Vogel war er schon immer, jetzt ist er eben noch Muslim.

Wie hat sein Umfeld reagiert, als er zu einem gläubigen Muslim wurde? "Die haben das sehr entspannt genommen. Es gab bei mir aber auch keinen Bruch in der Persönlichkeit. Ich bin ja immer noch ich. Darum haben sich die meisten meiner Freund*innen wohl gedacht: Na gut, ein verrückter Vogel war er schon immer, jetzt ist er eben noch Muslim." Hermann lacht. Man merkt ihm an, dass er möchte, dass sich alle Anwesenden wohlfühlen. Er schüttelt Hände, stellt Fragen, erklärt grinsend das Bonuspunktesystem, mit dem man sich einige Muslim*innen den Eintritt ins Paradies sichern wollen: "Wer am Donnerstag fastet, dem werden alle Sünden der Woche vergeben."

Seit er konvertiert ist, nimmt Hermann die politische Debatte anders wahr als vorher. "Klar krieg man auch als Nicht-Muslim*in mit, dass die Islamdebatte in Deutschland alle paar Jahre von den Medien neu aufgerollt wird. Aber wenn ein Herr Seehofer sagt, meine Religion würde nicht zu Deutschland gehören, dann betrifft mich das natürlich." Er empfindet die Polemik, mit der Politiker*innen gegen den Islam wettern, als kalkuliert. Insgesamt wünscht sich Hermann mehr Akzeptanz und mehr Möglichkeiten, einander offen zu begegnen – unabhängig davon, ob es dabei um seine*ihre Sexualität oder um seinen*ihren Glauben gehe.

Erst Gebet, dann Techno

Die Ibn Rushd-Goethe Moschee bietet einen sicheren Ort für Gläubige und Nichtgläubige, Menschen mit unterschiedlichen Sexualitäten und Geschlechtern. Eine Art Safe Space in dem man Fragen stellen, diskutieren und miteinander ins Gespräch kommen kann. Orte, wie sie sich queere Muslim*innen in anderen Ländern wohl wünschen, die ihre Sexualität verleugnen oder im Verborgenen ausleben müssen. Orte, wie es sie in unserer Gesellschaft noch immer viel zu selten gibt.

Den ganzen Nachmittag über werden Nummern ausgetauscht und Freundschaftsanfragen auf Facebook versandt. Gegen Ende der Veranstaltung, als die meisten sich verabschiedet haben, zieht sich Imam Zahed mit einigen Männern und Frauen in den Gebetsraum zurück. Das Abendgebet steht an. Und danach? Manche überlegen, den Tag in einem der Berliner Clubs ausklingen zu lassen. Die einzige Bedingung: LGBTQ friendly solle es bitte sein.