Es ist ein gigantisches Projekt – der Bau selbst weit weniger als die inhaltlichen Visionen. Ganze vier Etagen zählt die alte Spitzenfabrik in Grimma. Der Backsteinbau liegt idyllisch am weitläufigen Flussufer der Mulde. In den riesigen Fensterfronten bricht das Sonnenlicht. Von weitem sieht das Gebäude verlassen aus. Wer sich allerdings dem über 10.000 Quadratmeter großen Areal nähert, findet rundherum Graffiti, einen Skatepark, eine Fahrradwerkstatt und im Hof eine selbstgebaute Konzertbühne. Das ist aber längst nicht alles, doch der Reihe nach.

Der Mann, der hinter all dem steckt, ist Tobias Burdukat – Spitzname "Pudding". Burdukat ist Mitte 30, trägt langen Rauschebart, Tunnel in den Ohren und Tattoos bis zum Hals. Sein ausgeprägter sächsischer Dialekt verrät, wo er aufgewachsen ist. Grimma liegt zwischen Leipzig und Riesa, nicht weit von der Autobahn entfernt. Im Grunde ist es eine typisch sächsische Kleinstadt – knapp 30.000 Menschen leben hier, verteilt auf 64 Ortsteile.

Vor fünf Jahren hat der gelernte Sozialarbeiter den sanierungsbedürftigen Bau gepachtet. Nach der Wende musste die einstige Spitzenfabrik schließen und wurde zum Lagerraum – bis 2013 das Hochwasser kam. Burdukat kennt das Gebäude schon lange. Vor zehn Jahren hat er hier Partys und Konzerte besucht. Heute verwirklicht er an selber Stelle eine Vision, die er Dorf der Jugend nennt. Was genau sich dahinter verbirgt? "Ein realer Spielplatz für Jugendliche", so Burdukat. Er will für Jugendliche einen Ort schaffen, "wo sie sich selbst verwirklichen können". Angefangen hat alles an anderer Stelle, damals noch mit kleineren Kulturprojekten, Workshops und einem Festival, das die Heranwachsenden mittlerweile in Eigenregie organisieren. Irgendwann kam die Immobilie dazu.

Motivationskünstler

Burdukats Projekt verlangt inzwischen seine volle Aufmerksamkeit. Die Anstellung als Leiter eines Jugendhauses bei der Diakonie in Grimma wurde in beiderseitigem Einvernehmen aufgelöst, allerdings auch wegen inhaltlicher Differenzen, wie er sagt. Eine 30-Stunden-Stelle als Sozialarbeiter des Dorfprojektes finanziert der Landkreis. Viel sei das nicht, erklärt er. Burdukat sieht sich heute eher als Projektmanager, weil die Jugendlichen immer wieder an eigenen Vorhaben arbeiten, die betreut werden müssen.

"Das Areal zu bespielen, ist dann erst Schritt zwei oder drei. Vorher geht es darum, die jungen Menschen zum Mitmachen zu bewegen." Burdukat ist demzufolge mehr auf dem Gelände als in seiner Wohnung. Um mehr Zeit zu haben, legte er 2018 auch sein Mandat im Grimmaer Stadtrat nieder, nach immerhin neun Jahren. Mitglied im Kreistag des Landkreises Leipzig aber ist er geblieben.

Er will so viele Plätze wie möglich schaffen, die frei zugänglich sind. In einem Schiffscontainer vor der Fabrik eröffneten die Jugendlichen 2016 ein kleines Café. Geöffnet hat es von Freitag bis Sonntag und bei Veranstaltungen. Es sei das erste große Projekt gewesen, erzählt Burdukat. Über mehrere Jahre wurde der blecherne Koloss saniert und umgebaut. Der Café-Betrieb decke heute immerhin die Betriebskosten des Geländes. Momentan entsteht im Erdgeschoss der einstigen Fabrik ein neuer Veranstaltungssaal. Die Mauern wurden bereits im letzten Jahr eingezogen.

Die kommunalen Behörden seien dem Projekt gegenüber schon einigermaßen wohlwollend, aber vieles dauere zu lange, kritisiert er. "Die Jugendlichen resignieren schnell, wenn es stockt oder nicht weiter geht." Damit aber der Kontakt nicht abreißt, findet alle zwei Wochen ein Plenum statt – alles möglichst hierarchiefrei. Zehn bis 15 Jugendliche kämen regelmäßig, um die weiteren Schritte zu planen.

Motivation über Generationen hinweg

Was Burdukat dagegen nicht will, ist ein selbstverwaltetes Jugendzentrum nur einer Generation. "Mein Anspruch ist es, immer neue Jugendliche zu motivieren, sich zu beteiligen und das über unterschiedliche Altersgruppen hinweg. Ich hoffe schon, dass die Menschen nicht weiter abwandern, sondern hierbleiben, damit der ländliche Raum vielfältiger bleibt und die Region nicht völlig ausstirbt."

Ob auch der Landkreis daran ein Interesse hat, bleibt abzuwarten. Burdukat liegt derzeit im Clinch mit dem Jugendamt, das dem Verein, der das Dorfprojekt trägt, bisher noch die Anerkennung als freier Träger verwehrt. Das hieße in der Konsequenz, dass es für seine Arbeit keine Förderung mehr gibt. Für Burdukat ist offen, wie es weitergeht. Die angespannte Situation liegt seiner Meinung nach daran, dass er die offene Kinder- und Jugendarbeit immer wieder öffentlich kritisiert.

Mein Anspruch ist es, immer neue Jugendliche zu motivieren, sich zu beteiligen und das über Generationen hinweg.
Tobias Burdukat

Burdukat stört sich vor allem an Jugendhäusern, die entweder nur bis zum späten Nachmittag geöffnet sind oder sich allein um Hausaufgabenhilfe kümmern. Mit dem Zustand der sozialen Arbeit geht Burdukat, der selbst Lehrbeauftragter für offene Kinder- und Jugendarbeit an der Hochschule Mittweida ist, sehr hart ins Gericht. Seine Profession sei an einem Tiefpunkt angekommen, kritisiert er. Auch viele seiner Studierenden hätten eine falsche Vorstellung. Einige seien zu jung und wüssten deshalb nicht, was der Job verlangt.

"Die soziale Arbeit ist keine gesellschaftliche Feuerwehr. Und wer anderen helfen will, sollte einen Pflegeberuf lernen oder Medizin studieren." Burdukat selbst begann sein Studium auf dem zweiten Bildungsweg. Was er neben einer veränderten Ausbildung fordert, sind weniger Wohlfahrtsverbände in den Fachgremien. Dort brauche es mehr Menschen aus der Praxis.

"Die Sozialarbeit versucht immer Kompromisse auszuhandeln und die andere Seite zu verstehen, aber wir müssen auch klar sagen: 'Bis hierher und nicht weiter. Hört uns zu, verändert etwas oder lasst es bleiben'". Burdukat will diesen frustrierenden Zustand nicht mehr mittragen und lässt sich auch von neu geschaffenen Stellen nicht beschwichtigen, solange die Struktur die gleiche bleibt.

Reibung und Jugendarbeit seien nicht gewollt, das spürt er im Moment am eigenen Leib. Ohnehin könne die Jugend gar nicht mehr jugendlich sein. Früher hätten sich die Heranwachsenden mit ihren Eltern gerieben, das habe sie selbstständiger gemacht. Und heute? "Manche Eltern sind cooler als ihre Kinder und einige Kinder erwachsener als ihre Eltern. Das ist völlig wahnsinnig."

Mehr Zeit, mehr Partizipation

Im Dorf der Jugend sollen sie sich ausleben und ausprobieren können. Burdukat ist überzeugt, dass viele Menschen aus Grimma diese Idee teilen und befürworten. Kritische Stimmen gebe es zwar schon, ab und zu auch Schmierereien, es halte sich aber alles im erträglichen Rahmen. Für sein Engagement wurde der Mittdreißiger in den vergangenen Jahren bereits mehrfach prämiert, mit dem Panter-Preis oder der Goldenen Henne.

Das Gelände bleibt also ein gefragter Ort – für Jugendweihen, Kindergeburtstage oder Schulabschlussfeiern. In Grimma gebe es nicht mal mehr eine richtige Kneipe, weiß Burdukat. Ein weiteres Novum ist der Bolzplatz, inzwischen der einzige, auf dem Menschen kicken könnten, ohne einem Sportverein beitreten zu müssen.

Die soziale Arbeit ist keine gesellschaftliche Feuerwehr. Und wer anderen helfen will, sollte einen Pflegeberuf lernen.
Tobias Burdukat

Mit dem Besitzer der alten Spitzenfabrik will Burdukat demnächst eine Betreiberfirma gründen, um die Mieteinnahmen weiter steigern zu können. Die braucht er dringend, um laufende Kosten zu decken und neue Ideen verwirklichen zu können. Davon hat Burdukat schließlich genügend.

In den kommenden Jahren und Jahrzehnten sollen in dem gealterten Backsteinbau Seminarräume, Büros, Ausstellungsflächen, Sportmöglichkeiten und Wohnungen entstehen. Räumlichkeiten, die andere Vereine aus der Region nutzen könnten. Auch ein kleines Hostel schwebt ihm vor. Doch im Inneren ist dafür noch mehr als genug zu tun – Rohbau wäre noch nett formuliert. Zeitdruck aber verspürt Burdukat keinen. "Je länger alles dauert, umso mehr Jugendliche können mitmachen."

Von Tom Waurig (Text) und Benjamin Jenak (Fotos) auf Veto.

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