Wer sich mit Freund*innen verabredet, rechnet damit, dass sie dann auch erscheinen. Natürlich kann etwas dazwischenkommen, und die Verabredung wird kurzfristig abgesagt, aber das sollte die Ausnahme bleiben. In den USA hat sich die Angst, sitzen gelassen zu werden, im Sprachgebrauch manifestiert.

"Don't bail on me!" gehört hinter jede frisch vereinbarte Verabredung, selbst wenn der Termin schon morgen ist, denn sonst kommt die Ernsthaftigkeit nicht rüber. Dahinter steht die Angst vor kurzfristigen Absagen. Aus zur Gewohnheit gewordenen Absagen hat sich landesweit eine Floskel zum Gegenangriff gebildet – ein gesellschaftliches Phänomen, das sich in der Sprache zeigt.

"Don’t bail on me!" lässt sich mit "Lass’ mich nicht hängen!" übersetzen. Die Bedeutung ist nicht neu, sondern die Permanenz, mit der die Phrase genutzt wird, weil das Versprechen, zu erscheinen, in der eigentlichen Verabredung nicht mehr enthalten ist. Es hat also eine Bedeutungsabwertung stattgefunden. Sprache unterliegt ständigen Veränderungen und muss sich an neue Gebrauchsweisen anpassen. Einfache Beispiele sind Wortneuschöpfungen wie Cyberkrieg, Livestream oder Selfie, die seit 2017 im Duden stehen. Dass sich ganze Phrasen neu bilden und für Situationen durchsetzen, kommt hingegen seltener vor.

Die New York Times spricht in einer im Juli 2017 veröffentlichten Kolumne vom "Golden Age of Bailing" und meint damit die Verzweiflung hinter geplatzten Verabredungen. Autor David Brooks sieht das Bailing als Wegweiser in ein neues Zeitalter der Unverbindlichkeit moderner Beziehungen. Er schreibt, dass es ein Dilemma gibt aus flüchtigem Enthusiasmus, sich zu verabreden und mangelnder Selbstkenntnis, eben diese Verabredung auch einzuhalten.

Bailing ist ein kulturelles Phänomen

Damit einher geht im Alltag in den USA der Hang zu schnell formulierten Notlügen. Denn um spontan aus einer anstehenden Verabredung rauszukommen, muss ein triftiger Grund herhalten. Die Ehrlichkeit, den Netflix-Nachmittag vorzuziehen, ist eher selten. In Deutschland sind bisher nur die Grundzüge dieses Phänomens angekommen, und das könnte am kulturellen Unterschied liegen.

Einfach nicht zu erscheinen oder in letzter Minute per SMS abzusagen erspart einem das enttäuschte Gesicht des Gegenübers.
Charee Thompson

Amerikaner*innen sind – zumindest im Alltag – konfliktscheu. "Einfach nicht zu erscheinen oder in letzter Minute per SMS abzusagen erspart einem das enttäuschte Gesicht des Gegenübers", erklärt die Kommunikationswissenschaftlerin Charee Thompson ze.tt. "Daher werden gerne wie gewohnt enthusiastisch Pläne geschmiedet, um nicht von vornherein unhöflich zu sein, obwohl man in dem Moment bereits weiß, dass man nicht hingeht."

"Lass uns mal einen Kaffee trinken gehen!"

Das erinnert an die deutschen Kirmesgespräche: Man trifft alte Freund*innen auf dem Jahrmarkt, unterhält sich kurz und hält fest, dass man unbedingt mal wieder einen Kaffee trinken gehen muss. Beide wissen meist, dass es dazu nicht kommen wird. Bailing bezieht sich in den USA aber hauptsächlich auf gute Freund*innen, mit denen man regelmäßig Zeit verbringt.

Spannend ist im Alltag vor allem der Gegensatz aus mitmachen und gleichzeitig nicht betroffen sein zu wollen. Dabei müsste das Gefühl, selbst nicht hängen gelassen werden zu wollen, eigentlich stark genug sein, anderen nicht kurzfristig abzusagen. In der Realität scheint es das aber nicht zu sein.

Smartphones sind nicht der Auslöser

Das Smartphone macht Bailing einfacher, weil es einem den persönlichen Kontakt und, wie Thompson sagt, "das enttäuschte Gesicht" erspart. Es ist allerdings nicht der Auslöser des Pläneschmiedens und dann -absagens. Hinter der Phrase Don’t bail on me! versteckt sich ein gefordertes Versprechen nach Verbindlichkeit, das eine einfache Verabredung offensichtlich nicht mehr ausreichend transportiert.

"Wenn du Pläne mit einer Person machst und die nicht einhältst, verletzt das die Person, und vielleicht schädigt es deine Beziehung mit dieser Person nachhaltig", erklärt Thompson. Um Bailing also zu überwinden, müssten wir es der absagenden Person übelnehmen, denn nur aus dem Lerneffekt könne sich das Verhalten ändern.

Kommunikationsprobleme sind schuld

New-York-Times-Kolumnist Brooks schreibt, dass sich jede*r hin und wieder auch über eine Absage freue, weil plötzlich zusätzliche Freizeit entstanden sei. Auf Dauer führt das aber zu weiteren Kommunikationsproblemen, denn wer zuverlässig kommunizieren will, sollte mit den gleichen Absichten anfangen.

Auch in Deutschland wird mangelnde Verbindlichkeit beklagt, aber wird sich diese zukünftig auch in festen Redewendungen widerspiegeln? Brauchen wir eine zusätzliche Floskel hinter allen Verabredungen, um unsere Ernsthaftigkeit auszudrücken? Oder ist die deutsche Zuverlässigkeit stark genug, um uns vor diesem Gesellschaftsphänomen zu bewahren?

All das sind Fragen, die jetzt noch nicht beantwortet werden können. Das goldene Zeitalter des Hängenlassens hat es bisher noch nicht über den großen Teich geschafft – auch, weil der kulturelle Unterschied die Brücke noch nicht geschlagen hat.