Die Bandbreite zwischen introvertiert und extrovertiert ist groß. Einige Menschen sind ambivertiert, sie vereinen also die Eigenschaften beider Extreme in sich und wechseln sie je nach Situation ab. Niemand ist vollkommen intro- oder extrovertiert. Aber wenn wir uns die Persönlichkeitsstruktur als Skala vorstellen, liegen die meisten irgendwo näher an der Intro- beziehungsweise Extrovertiertheit.

Forschende aus Brisbane in Australien haben sich 184 Studierende der Betriebswirtschaft geschnappt und sie darauf überprüft, wie gerne sie Führungsverantwortung übernehmen. Für eine neue Studie stufte das Forschungsteam sie davor jeweils mittels Fragenkatalog auf introvertiert oder extrovertiert ein.

Dabei fanden sie heraus: Introvertiertere Menschen unterschätzen generell ihre Chef*innenqualitäten und stechen seltener als Führungspersonen heraus. Und das obwohl sie laut Wissenschaft vielleicht sogar besser dazu geeignet wären als extrovertierte Menschen.

Die eigenen Erwartungen als Hindernis

Extrovertierte Menschen sind laut der Persönlichkeitspsychologie nach Carl Gustav Jung eher nach außen gerichtet und sozial. Im Vergleich zu ihnen sind Introvertierte eher passiv, ruhig und reserviert.

Das Level an Introversion oder Extraversion äußert sich in verschiedensten persönlichen oder professionellen Ebenen, wie die leitenden Forscher Peter O'connor und Andrew Spark in einem Beitrag für The Conversation schreiben. Extrovertiertere Menschen würden sich in Jobs, in denen man Dinge verkaufen muss, besser schlagen als Introvertiertere. Umgekehrt seien introvertiertere Menschen häufiger ehrlich, bescheiden und weniger risikofreudig, wenn es um ihre eigene Gesundheit oder Sicherheit gehe.

In ihrer Studie haben die Forschenden beobachtet, wie die Studierenden sich bei Aufgaben in kleinen Gruppen verhalten. Davor fragten sie bei allen Teilnehmenden nach einer Vorhersage, welche Emotionen sie während der Aktivitäten bei sich erwarten. Sie bekamen dafür eine Liste ausgehändigt, mit Erwartungen von "Ich werde mich freuen" bis "Ich werde mich aufregen".

Bei den introvertierteren Studierenden äußerte sich als wichtiger, was sie vorher dachten, wie sie sich in Situationen fühlen werden, in denen sie mächtigere Rollen spielen müssen. Wenn sie dachten, sie würden negative Gefühle haben – etwa Sorgen oder Ängste –, wurde das zu einer starken psychischen Barriere. Es hinderte sie daran, sich wie eine Führungsperson zu verhalten.

Zudem dachten die introvertierteren Menschen vorher, sie würden in Führungspositionen weniger positive Emotionen wie Spannung oder Interesse wahrnehmen. Im Vergleich dazu erwarten extrovertiertere Menschen weniger negative Emotionen bei bevorstehenden Führungsaufgaben – daher gehen sie auch selbstbewusster mit ihnen um.

Was introvertierteren Menschen dabei helfen würde, Führungspersonen zu werden

Die Wissenschaft ging laut O'Connor und Spark bisher davon aus, dass extrovertiertere Menschen sich generell besser als Führungspersonen machen würden. Ihre Charakteristika lassen sie wie geborene Chef*innen wirken. Das mache laut den Forschenden auf den ersten Blick auch Sinn, immerhin sind extrovertiertere Menschen dominanter, zuversichtlicher und schlagkräftiger. Viele effektive Führungsstile bauen außerdem auf Charisma und Begeisterungsfähigkeit.

Aber: Mittlerweile häufen sich positive Beurteilungen introvertierterer Menschen als Führungspersonen. Die Autorin Susan Cain schreibt in ihrem Buch Quiet etwa über die vielen Stärken, die Menschen in leitenden Funktionen helfen würden, etwa die Fähigkeit zum Zuhören und tiefgründigen Denken.

Einige Studien haben außerdem Situationen benannt, in denen introvertiertere Menschen besser in Führungspositionen geeignet sind als extrovertiertere. In Teams, die besonders proaktiv – also selbständig und vorausschauend – arbeiten, seien sie die effektiveren Chef*innen. Introvertiertere Charakteristika sind außerdem gut dafür geeignet, aus Menschen Führungskräfte zu machen, die gute Leistungen anderer fördern – weil sie sich auf persönliches Wachstum und das Wohlbefinden des Teams fokussieren.

Nur weil introvertiertere Menschen denken, sie würden sich in leitenden Positionen nicht gut machen, heißt das nicht, sie könnten keine erfolgreichen Führungskräfte sein." – Peter O'Connor und Andrew Spark

Laut O'Connor und Spark sei es möglich, introvertiertere Menschen dazu zu ermutigen, in ihre Führungsqualitäten zu glauben, statt sich schon vorher selbst zu blockieren. Dazu müsste man ihnen beibringen, zwar respektvoll, aber optimistischer an Führungspositionen zu denken. Gelänge das, würden sie sich genauso oft als solche hervortun können wie extrovertiertere Menschen. Und steckten sie erst mal in einer Chef*innenposition, sähen sie darin genauso viel Gutes wie extrovertiertere Menschen.

"Introvertiertere würden in vielen Situationen gute Chef*innen abgeben", schreiben O'Connor und Spark. "Die Herausforderung ist also nicht, aus introvertierteren Menschen extrovertiertere zu machen, sondern sie dazu zu bringen, ihre eigenen Qualitäten zuversichtlicher einzuschätzen."