In pinken Laufschuhen schwebt Ilyas Osman über die Tartanbahn. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, während der 18-Jährige Runde um Runde in dem Wiesbadener Stadion hinter sich legt. Seine Füße haben bereits die Sahara durchquert, seine Augen bereits Furchtbares gesehen.

Aber Ilyas hat seinen Lebensmut nicht verloren. Im Gegenteil scheint er vor Energie zu strotzen, er läuft und läuft. Und er möchte teilen, was er gesehen und erlebt hat.

Ilyas ist in Mogadischu geboren und aufgewachsen. An seine Kindheit hat er nicht viele schöne Erinnerungen. Denn in Mogadischu sterben täglich viele Unschuldige bei Attentaten islamistischer Gruppierungen. "Täglich werden Frauen und Kinder erschossen", sagt Ilyas, "einfach so."

Die Situation in Somalia
Der aktuelle Konflikt in Somalia ist eine Folge des Bürgerkrieges, der Anfang der 1990er entstand. Eine Gruppe steht im Zentrum des Konflikts, treibt ihn voran und heizt an: die Al-Shabaab Miliz. Das Ziel der mit Al Kaida verbündeten islamistischen Organisation ist es, in dem von Krieg und Chaos geprägten Land am Horn von Afrika, einen islamistischen Staat zu errichten. Dabei betrachten sie westliche Länder sowie den somalischen Staat als ihre Feinde. Seit 2007 kämpft die Miliz in Mogadischu gegen die Regierung. Vor allem Kinder und Jugendliche rekrutieren sie als Kämpfer*innen. Obwohl die Regierungstruppen mit Unterstützung von Soldat*innen der Friedensmission Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM) die Miliz weitestgehend aus der Hauptstadt vertreiben konnten, verübt Al-Shabaab noch immer Anschläge in der Hauptstadt und kontrolliert ländliche Gebiete sowie Teile Südsomalias.

Aber immerhin sei er mit seiner Familie zusammen gewesen, sagt er. Gemeinsam mit seiner Mutter, seinem Vater und vier Geschwistern lebte er in einer Dreizimmerwohnung mit Küche und Bad mitten in der Stadt. Richtig raus aus Mogadischu ist er nicht gekommen, bis zu seiner Flucht. Es wird viel gebaut in der Hauptstadt Somalias und viel zerstört. "Zwei bis drei Tage nachdem etwas gebaut wurde, ist oft alles wieder kaputt", erinnert sich Ilyas.

Die Gebäude in Mogadischu und Italien sehen sich ein wenig ähnlich." – Ilyas

Dennoch findet er Mogadischu auch irgendwie schön. Insgesamt sei es steiniger. "Die Gebäude in Mogadischu und Italien sehen sich ein wenig ähnlich", erzählt Ilyas und erklärt, dass Mogadischu einmal Teil einer Kolonie von Italien war. Er weiß sehr viel über die Geografie und die Geschichte seines Landes. In Mogadischu geht er zunächst in die Grundschule. Zu dieser muss er fünf Kilometer weit laufen, Busse gibt es nicht.

"In der Schule werden ungefähr 80 Schüler in einer großen Halle von einem Lehrer unterrichtet", sagt Ilyas. Auch Sport habe er getrieben. 800 Meter und 600 Meter sei er gerannt. "Aber nicht auf einer so tollen Bahn wie in Wiesbaden", schmunzelt er. Nach der Schule hat Ilyas oft mit seinen Freund*innen Fußball gespielt. Das habe er geliebt.

Seine Mutter entscheidet, dass er fliehen muss

Fußballspielen ist allerdings eine Ausnahme. Ilyas Alltag ist geprägt von Kriminalität, Gewalt und Mord. Angst, überlegt er, hatte er nicht wirklich. Seine Eltern fürchteten sich mehr um ihn, seinen großen Bruder und seine zwei kleinen Geschwister.

Es ist ein normaler Schultag, der Ilyas' Leben für immer verändert. Al-Shabaab-Terrorist*innen betreten die Schule und fordern Ilyas und seinen Bruder auf, mit ihnen zu kommen. Ein Verwandter der Familie ist Anhänger der Miliz. Als die beiden Jungen sich weigern, wird Ilyas' Bruder vor seinen Augen erschossen. Ilyas kann entkommen.

Seine Mutter entscheidet, dass die Gefahr in Mogadischu zu groß für ihn ist. "Du darfst nicht hierbleiben, sie werden dich finden und dann auch töten", habe sie ihrem Sohn gesagt. Anfang 2014 beginnt Ilyas' Flucht aus Somalia.

Der Weg durch die Sahara und die Überfahrt über das Mittelmeer waren am schlimmsten

Ilyas ist 14. Mit einer Gruppe Somalier*innen reist er zunächst nach Äthiopien, dann weiter in den Sudan, wo er zwei Monate im Gefängnis verbringt. Er sei der Jüngste dort gewesen und deswegen besser behandelt worden. Waren die anderen Gefangenen ununterbrochen in einem engen Raum eingesperrt, durfte er ab und zu an die frische Luft. "Auch das Essen, was sie mir gegeben haben war besser", berichtet Ilyas. Von dort aus fährt er durch die Sahara weiter nach Libyen. Auch hier verbringt er weitere sechs Monate im Gefängnis, wartet auf ein Boot, das ihn über das Mittelmeer bringt. Auf seiner Flucht lernt er einen Mann kennen, der ihm hilft. "Einfach so, aus Menschlichkeit", flüstert Ilyas und schaut jetzt etwas sorgenvoller. Sein Freund saß in einem anderen Boot, das kenterte. Wie viele andere hat er die Reise über das Mittelmeer nicht überlebt, ist ertrunken.

Den Weg durch die Sahara, die er teilweise zu Fuß und teilweise mit dem Auto durchquert hat, beschreibt er als die schlimmste Zeit seiner Flucht. 25 Tage lang kämpfte sich Ilyas mit 30 weiteren Flüchtenden durch die Wüste. "Die Schlepper aus Libyen gaben uns nichts zu essen, nur Wasser, und schlugen uns bei jeder falschen Bewegung", erzählt Ilyas. Dennoch lacht er jetzt wieder, ein herzliches Lachen. Vielleicht um zu überspielen, wie schrecklich die Flucht war, vielleicht vor Freude, dass diese Zeit nun hinter ihm liegt.

Er kommt in Sizilien an Land und kauft dort von Somalier*innen ein Zugticket. Er ist auf sich alleine gestellt, hat kein Handy und steigt schließlich, ohne es zu wissen, in den Zug nach Frankfurt. Bevor Ilyas ankommt, rufen Fahrkartenkontrolleur*innen die Polizei. Die nimmt ihn mit, verhört ihn, er gibt seine Fingerabdrücke ab und bleibt eine kurze Zeit in einem Heim in Frankfurt.

In Deutschland ist alles anders

Im Mai 2015 kommt Ilyas schließlich in Wiesbaden an. Der Anfang in der neuen Stadt fällt ihm schwer. Alles ist neu und anders. Doch es dauert nicht lange, bis sich Ilyas eingewöhnt. Zurzeit besucht er die Hauptschule. In der kommenden Woche muss er Prüfungen ablegen. Seine bisherigen Noten sind gut und er hofft, auf die Realschule wechseln zu können.

Sein Traumberuf ist es, Polizist zu werden, ein zweites Standbein neben dem Sport aufzubauen. Im Sport, der Leichtathletik, hat er eine zweite Familie gefunden, "die mich immer unterstützt", strahlt der junge Sportler. Heute wohnt er in seiner eigenen Wohnung, unweit vom Leichtathletikstadion, seinem Lebensmittelpunkt, entfernt.

Zum Laufen ist er über den Fußball gekommen. Auch beim Fußballspielen lief er immer viel, das machte ihm Spaß. Seine damalige Betreuerin hat mit ihm seinen jetzigen Verein im Internet entdeckt. Ilyas weiß noch genau, wie sein erstes Training ablief. Berganläufe im Wald standen auf dem Programm. Die erste Trainingswoche fiel schwer. Mit Begeisterung erzählt er heute von den Schwierigkeiten – dass er schneller laufen wollte. Am Anfang hat er nichts gesagt, hat nichts verstanden. Dennoch hat er sofort den Anschluss gefunden. Jetzt, zweieinhalb Jahre später redet er frei, flüssig und viel.

Laufen hat mein Leben verändert." – Ilyas

Durch das Laufen hat er gelernt, das Erlebte besser zu verarbeiten. "Laufen", so sagt er, "hat mein Leben verändert." Der Sport mache ihn glücklich. Wenn er nicht läuft, werde er müde. "Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn ich nicht zum Laufen gefunden hätte", sagt er. Heute bestimmt das Laufen seinen Alltag. Sieben- bis achtmal trainiert er in der Woche. In Deutschland ist er sowohl über 5.000 Meter als auch über 10.000 Meter der schnellste seiner Altersklasse. Auch die WM-Norm hat er über 10.000 Meter bereits unterboten.

Sein größtes Ziel ist es, bei Olympia und den Weltmeisterschaften zu starten, seinem großen Idol, dem mehrfachen Olympiasieger Mo Farah, sportlich näherzukommen. Doch schon jetzt, so sagt er immer wieder "lebe ich meinen Traum und ich möchte meinen Traum auch weiterleben." Noch wartet er auf seinen deutschen Pass, der ihm das ermöglicht. Er hofft, dass er ihn im Sommer bekommt und im Herbst bei Weltmeisterschaften für Deutschland an den Start gehen kann. Ilyas läuft zwar so schnell er kann, doch er flüchtet nicht mehr. In Wiesbaden ist er angekommen.