Meine Schwester heiratete wie nach dem Drehbuch einer Hollywood-Schnulze. Nach der kirchlichen Trauung in Weiß ging's ins Restaurant. Familienmitglieder hielten emotionale Toasts auf die Frischvermählten, das Paar schunkelte zu Eric Claptons kitschigem Wonderful Tonight, wir tranken Wein und Gin Tonic durcheinander, lachten, weinten und tanzten.

Ich habe mich sehr für meine Schwester über all das gefreut. Eine Frage ließ mich in den folgenden Wochen aber nicht los: Wie viel Geld hatten unsere Eltern wohl zu der Feier beigesteuert?

Mit dieser Frage im Kopf fühlte ich mich wahnsinnig unwohl. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Es war so, als wäre ich über Nacht ins Kindesalter zurückverfallen, in dem man zetert und schreit, wenn die Schwester oder der Bruder ein größeres Weihnachtsgeschenk bekommen hat. Dabei weiß ich es doch eigentlich besser. Ich schluckte den Geschwisterneid vorerst runter – und fragte mich: Warum gibt es ihn überhaupt?

Wir streiten um Zeit, Aufmerksamkeit, letztlich um Liebe

Bei solchen Neidgedanken gehe es im Kern eigentlich nicht ums Geld, "es geht um Liebe", erklärt mir Christine Kaniak-Urban, Psychotherapeutin und Autorin des Buchs Wenn Geschwister streiten. "Jedes Kind ist von den Eltern existenziell abhängig, deshalb kämpfen die Geschwister fortlaufend um den besten Platz in Mamas und Papas Herzen." Geschwister sind von Geburt an Konkurrent*innen, mit denen wir ständig um die Ressourcen unserer Eltern ringen: um Zeit, um Aufmerksamkeit und auch um finanzielle Unterstützung – etwa für den Führerschein, die Ausbildung und das Studium oder eben die Hochzeit.

Der Neid ist programmiert, es gab ihn schon immer. Eines der ältesten Motive findet sich in der biblischen Mythologie: Kain erschlägt seinen jüngeren Bruder Abel aus Neid, nachdem Gott Abels Opfergabe der von Kain vorgezogen hat. Bis heute faszinieren uns solche Geschichten, sich beneidende und streitende Geschwister sind ein wiederkehrender Handlungsstrang zum Beispiel von Game of Thrones und Bloodline.

Beim Geschwisterstreit spiele es im Übrigen keine Rolle, ob die Schwester oder der Bruder leiblich oder adoptiert ist, so Kaniak-Urban. Die relativ junge Geschwisterforschung – eine Disziplin der Psychologie, Soziologie, Biologie und Genetik, Pädagogik und auch Ethnologie – habe herausgefunden, dass eine genetische Übereinstimmung keine Rolle dabei spiele, ob man ein Geschwister als solches wahrnimmt. Stattdessen sei das Bindungsgefühl sozial bedingt. Es hänge unter anderem von der Zeit ab, über die man mit diesem Menschen zusammen aufgewachsen ist.

Streitet, Kinder!

Grundsätzlich könne Neid niemals durch die Eltern verhindert werden, sagt Kaniak-Urban. Da können sie sich bemühen, wie sie wollen – bereits durch die natürliche Geburtenreihenfolge entsteht ein Ungleichgewicht. Mit den Erstgeborenen erleben die Eltern alles zum ersten Mal: das Stillen, das Laufen, das Töpfchengehen, die Einschulung, die Streits – das schweißt zusammen. Beim zweiten sind Mama und Papa meist gelassener und weniger emotional verstrickt.

"Das Problem ist, dass Eltern ihre Kinder nicht alle gleich lieben", stellt Kaniak-Urban fest. "Das ist ein Mythos, das geht auch gar nicht. Manche Kinder sind einem näher und eher wie einer selber, man kann sie besser verstehen. Andere sind ferner."

Ein ewiger Statuskampf zwischen Geschwistern, ein ewiges Sich-vergleichen-Müssen und Einander-die-Elternliebe-Neiden wirkt zunächst furchtbar. All das hat aber durchaus auch positive Effekte, betont Kaniak-Urban. Der Konkurrenzkampf hilft uns bei unserer Entwicklung. Er nordet uns ein. Wenn unsere Geschwister etwas tun, das wir furchtbar finden, bestärkt uns das in unserer eigenen Haltung. Wenn unsere Geschwister etwas tun, das wir großartig finden, treibt uns das womöglich an, ihnen nachzueifern und über uns hinauszuwachsen. Neid und Streit mit den Geschwistern sind ein wichtiger Teil unserer Entwicklung, sie machen uns selbstbewusster. Selbst unsere allerbesten Freund*innen hätten mit ihrem Verhalten nie einen so prägenden Einfluss auf uns.

Wenn's ums Erbe geht, brechen alte Konflikte auf

Im Erwachsenenalter klingen die Streitereien im Normalfall ab. Das gelinge, indem "die Geschwister Wege finden, sich voneinander abzugrenzen", sagt Susann Sitzler, Journalistin und Autorin des Buchs Geschwister – Die längste Beziehung des Lebens. Je älter man wird, desto weniger ist man auf die Liebe der Eltern angewiesen. Man entwickelt – insbesondere durch den Statuskampf mit den Geschwistern – eine feste Identität, die immer weniger vom Gefallen der Eltern abhängig ist.

"Es kann aber passieren, dass diese Regulierung nicht richtig funktioniert und sich der Neid ins Erwachsenenalter überträgt", sagt Sitzler. In dem Fall trägt man später eine kindlich-irrationale Rivalität mit einer sehr starken Emotionalität aus – zum Beispiel Neid oder sogar Hass.

Diese Rivalität mag manchmal nicht auffallen. Da sie im Erwachsenenalter nicht mehr unter einem Dach zusammenleben, vielleicht sogar in anderen Städten, geraten Geschwister zunächst seltener aneinander. Doch wenn die Eltern gestorben sind, können bei der Testamentseröffnung die alten Fragen aufbrechen: Wem hinterlassen Mama und Papa was? Sprich: Wen haben Mama und Papa am meisten geliebt? Dass sich diese Frage nach dem Tod der Eltern nicht endgültig klären lässt, kann Geschwister für immer entzweien.

Geschwister müssen den Neid gemeinsam überwinden

Lässt sich der Geschwisterstreit also am einfachsten eindämmen, indem man Mama und Papa eine simple Frage stellt: Wen liebt ihr mehr? "Ich denke, wenn man so offen miteinander reden kann, dann ist das eine wunderbar offene Familienatmosphäre", sagt Kaniak-Urban. "Aber meistens werden solche Dinge eher tabuisiert."

Susann Sitzler hält diese Strategie für schwierig. "Eine konfliktbehaftete Geschwisterbeziehung kann dann funktionieren, wenn man als Geschwister erwachsen wird, wenn man die Deutungshoheit zu seiner eigenen Verantwortung macht", sagt sie. "Das gelingt nur, indem man sich dem Blick der Eltern entzieht und ihnen nicht erlaubt, ein für allemal in Stein zu meißeln, wer welche Rolle spielt."

Irgendwann sollte man sich davon lösen, die Eltern definieren zu lassen, wer das Lieblingskind, das schwarze Schaf, das glänzende Vorbild, die*der Revoluzzer*in und und und ist. Irgendwann sollte man damit beginnen, die Themen Neid und Status in der Familie mit seinen Geschwistern selbst zu verhandeln. Auf Augenhöhe und rational. Doch diese Klärung kommt nicht von allein: Wir müssen diesen Schritt bewusst vollziehen und Probleme – wie immer – zur Sprache bringen. Wenn wir glauben, ungerecht behandelt zu werden, dann müssen wir das sagen.

Am Ende rief ich meine Schwester an und stellte ihr meine Geldfrage. Es war ein gutes Gespräch.