In einem früheren Beitrag haben Menschen im Autismus-Spektrum uns erklärt, wie sie Partner*innenschaften führen und worauf sie dabei Wert legen. In diesem Artikel geht es um die Perspektive von neurotypischen Menschen, die eine Beziehung zu Partner*innen im Autismus-Spektrum führen und geführt haben.

Kraft. Stärke. Hoffnung. Dorothea hatte tagelang auf diese Worte gewartet. Ihr Mann hatte tagelang mit sich gerungen, bis er sie aussprach. Die drei Eigenschaften, die er am meisten an seiner Frau schätzt.

Diese Aufgabe hatte Dorothea vor einigen Jahren all ihren Freund*innen und ihrer Familie gestellt: Sagt mir, was ihr an mir schätzt. "Ich war damals ein bisschen auf Selbstsuche", sagt Dorothea. Während ihre Freund*innen und ihre Familie schnell drei Eigenschaften nennen konnten, wiegelte Dorotheas Mann ab. Da gäbe es zu viele Facetten, erklärte er, er könne nichts dazu sagen. Doch Dorothea gab nicht auf. Sie bat ihn, sie drängte ihn. Schließlich sagte er unter Tränen: "Du gibst mir die Sicherheit der Stetigkeit und das gibt mir Kraft, Stärke und Hoffnung."

"Er hat völlig aufgelöst vor mir gesessen: Ich hatte so viel Druck ausgeübt und es hat ihn so viel Kraft gekostet", erinnert sich Dorothea. "Das war für mich wahnsinnig interessant, dass er nicht einfach sagen konnte: Du bist so, so und so für mich. Sondern dass das ein ungeheurer Kraftakt für ihn war."

Erst später verstand Dorothea, warum die Aufgabe für ihren Mann einen solchen Kraftakt bedeutete. Er ist autistisch, er hat Asperger. Das weiß das Paar seit etwa vier Jahren, seitdem bei ihrem Sohn das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde und die Ärztin im Therapiezentrum Dorothea zu verstehen gab, dass ihr Mann ebenfalls autistisch sei. "Für ihr geschultes Auge war das schon sehr eindeutig zu erkennen", sagt Dorothea. Sie selbst hatte die Hinweise allerdings nie deuten können.

Wie es ist, einen Asperger-Autisten zu lieben

An der Beziehung änderte sich durch die Erkenntnis nichts. Allerdings konnte Dorothea sich plötzlich Charakterzüge an ihrem Mann erklären, die sie zuvor nicht hatte einordnen können.

Zum Beispiel seine sehr genaue, präzise Denk- und Handlungsweise. "Wenn ich ihm sagte, es sei Viertel nach acht, und es war aber erst 14 Minuten nach acht, dann hat er immer darauf bestanden: Es sind 14 Minuten nach acht", erzählt Dorothea. Oder: seine Vorliebe für Listen. Im Spiegelschrank im Badezimmer hänge eine für den Ablauf der Abendroutine: Zähneputzen. Zahnseide benutzen. Pyjama anziehen. "Da guckt er immer drauf und es hilft ihm."

Und eben auch seine Schwierigkeit, Gefühle in Worte zu fassen – zum Beispiel die Liebe gegenüber seiner Frau. Zweifelt Dorothea manchmal an seiner Liebe? Überhaupt nicht. "Ich weiß, dass es nicht ein mangelndes Fühlen für mich ist, sondern eine Schwierigkeit, die ganzen Gefühle in etwas so Simples wie Worte zu fassen", sagt Dorothea. Ihr Mann habe Gefühle, betont sie. Sehr viele sogar und manchmal sehr überwältigende. Aber er habe Schwierigkeiten, über sie zu reden.

Die Art der Kommunikation autistischer Menschen ist häufig anders als die von anderen Menschen.
Christine Preißmann, Ärztin und Psychotherapeutin

Natürlich seien autistische Menschen in der Lage, Liebe zu empfinden, sagt Kommunikationstrainerin Eva Daniels. Sie lebte selbst zwei Jahre lang in einer Beziehung mit einem Asperger-Autisten und hat das Buch Geliebter Fremder über Beziehungen zwischen nicht-autistischen Frauen und ihren autistischen Partnern geschrieben. Die Gefühle und die Liebe seien oftmals da, sagt Daniels, "aber autistische Menschen können ihre Gefühle häufig nicht bezeichnen."

"Ich liebe dich" – das sei ein Satz, der für viele autistische Menschen nicht konkret genug sei. "Das ist so ein Satz, der nicht handfest ist", sagt Daniels, "und mit dem autistische Menschen häufig nicht viel anfangen können." Autist*innen hätten einen sehr konkreten Gebrauch und ein sehr konkretes Verständnis von Sprache, sagt die Kommunikationstrainerin. Nicht-autistische Menschen dagegen würden zur Interpretation von Gesagtem neigen und dazu tendieren, Dinge zu hören, die nicht gesagt wurden.

Folglich bestünden die größten Herausforderungen in einer Beziehung zwischen einer autistischen und einer nicht-autistischen Person in der Kommunikation, meint Daniels. Auch die Ärztin und Psychotherapeutin Christine Preißmann, die selbst Autistin ist und in einer Klinik in Heppenheim eine Autismus-Sprechstunde anbietet, berichtet: "Manche autistische Menschen kommen zu mir, weil es Schwierigkeiten in der Partner*innenschaft gibt. Und häufig sind das Kommunikationsschwierigkeiten – Missverständnisse in der Kommunikation." Preißmann sagt: "Die Art der Kommunikation autistischer Menschen ist häufig anders als die von anderen Menschen."

Wie Kommunikation zwischen autistischen und neurotypischen Menschen gelingt

"Nicht-autistische Menschen unterhalten sich, weil sie plaudern möchten. Autistische Menschen unterhalten sich, weil sie Sachinformationen austauschen wollen", sagt die Expertin. Eine Erfahrung, die auch Dorothea gemacht hat. "Ich habe eigentlich immer mit einem wandelnden Lexikon zusammengelebt", erinnert sie sich. Einerseits habe sie der wissenschaftliche Anspruch ihres Mannes, der sich in sämtlichen Lebensbereichen niederschlage, schon immer fasziniert. Auf der anderen Seite habe er manchmal einen großen Druck erzeugt, perfekt und unfehlbar zu sein. "Da lag die Latte wahnsinnig hoch", sagt sie.

Einmal hatte Dorothea für ihre Familie gekocht und sich beim Essen gefreut: "Heute habe ich euch ein echt gesundes Essen zubereitet." Für ihren Mann war die Aussage inakzeptabel. Es folgte ein detaillierte Begründung, warum Dorotheas Aussage falsch sei und es im Grunde genommen überhaupt kein gesundes Essen gebe, rein wissenschaftlich betrachtet.

Ich betrachte inzwischen jeden Satz aus zwei Perspektiven: Wie verstehst du den Satz? Und wie verstehe ich den Satz?
Dorothea

Früher kränkten sie solche Situationen. Da sie weiß, warum ihr Mann die Dinge manchmal anders versteht, kann Dorothea sich heute über das unterschiedliche Verständnis von Aussagen freuen. Sie hat gelernt, sich vom wissenschaftlich akkuraten Anspruch ihres Mannes zu lösen und abzugrenzen. "Ich muss als neurotypischer Mensch nicht immer alles sachlich fundiert sagen, behaupten und wissen."

Dorothea und ihr Mann hätten gelernt, dass man Sätze eben auf unterschiedliche Art und Weise auffassen könne. "Ich betrachte inzwischen jeden Satz aus zwei Perspektiven: Wie verstehst du den Satz? Und wie verstehe ich den Satz?", erzählt sie. Für Dorothea ist die Aussage, dass sie gesund gekocht habe, ein Ausdruck von Freude. Für ihren Mann dagegen eine wissenschaftliche Untersuchung. Wichtig sei, dass beide Sichtweisen absolut gleichwertig seien, sagt Dorothea.

Wichtig ist, die andere Sichtweise zu respektieren

"Die Wahrnehmung des*der neurotypischen Partner*in hat genauso viel Bestandswert wie die Wahrnehmung des*der autistischen Partner*in", sagt die Kommunikationstrainerin Eva Daniels. Beide Wahrnehmungen sollten absolute Gleichberechtigung haben.

Wichtig sei es, den*die andere*n nicht zu korrigieren, findet Dorothea. "Am Anfang wurde ich von meinem Mann für verschiedene Aussagen korrigiert, weil sie eben nicht lexikongetreu waren", erzählt sie. Heute nicht mehr. "Ich scherze heute manchmal am Tisch und sage: Ich habe echt ein gesundes Essen gekocht", sagt Dorothea. Während diese Aussage früher zu einer Auseinandersetzung geführt habe, würden sie nun zusammen lachen. "Heute können wir darüber lachen, weil wir die andere Sichtweise respektieren."

Den*die andere*n in seiner*ihrer Andersartigkeit zu respektieren – das sei überhaupt essentiell für das Gelingen der Beziehung. "Um mit einem Asperger-Mann glücklich zu werden, braucht man Respekt", sagt Dorothea. Respekt für das andere Verständnis von Sprache. Respekt für die manchmal anders gelagerten Bedürfnisse.

Wenn unterschiedliche Bedürfnisse nach Sozialkontakten aufeinandertreffen

Diese fallen Dorothea vor allem im Sozialleben auf: Ihr Mann würde nur selten Freund*innen treffen und ausgehen wollen. Er brauche viel Zeit für sich. Dorothea dagegen möchte häufiger unter Leute und aus dem Haus.

Diese unterschiedliche Bedürfnislage sei recht verbreitet in Beziehungen zwischen nicht-autistischen und autistischen Menschen, meint Kommunikationstrainerin Eva Daniels. Es gehe noch nicht einmal darum, dass autistische Menschen gar niemanden treffen wollten. Auch autistische Menschen hätten ein Bedürfnis nach Kontakten, betont Daniels. Aber sie bräuchten gewisse Auszeiten zum Runterkommen von den ganzen Eindrücken und Reizen, die mit einem Treffen und sozialen Interaktionen einhergingen, so die Expertin.

Das sei früher, als sie noch nichts vom Autismus ihres Mannes wusste, eine Schwierigkeit gewesen, sagt Dorothea. Damals habe sie immer darauf gewartet, dass ihr Mann sich bald ändern würde. "Ich habe immer gedacht, wenn dieses oder jenes Projekt abgeschlossen ist oder wenn dieser oder jener Meilenstein erreicht ist, dann wird er mehr Zeit für solche Dinge haben und wir werden sie gemeinsam tun", erinnert sie sich.

Man muss sein*ihr eigenes Leben haben – unabhängig von dem*der Partner*in.
Eva Daniels, Kommunikationstrainerin

Heute habe sie aufgehört zu warten. "Mir ist einfach klar geworden: Diese Veränderung wird niemals passieren", sagt sie. Nun unternehme sie bestimmte Dinge einfach alleine, ohne ihren Mann. "Ich habe angefangen, die Verantwortung dafür in die Hand zu nehmen", berichtet sie, "und mein Leben in dieser Hinsicht so befriedigend zu gestalten, auch ohne ihn, dass ich es genießen kann."

Diese Selbstständigkeit sei ganz wichtig, betont auch die Kommunikationstrainerin Eva Daniels. Wenn der*die nicht-autistische Partner*in zu fixiert sei auf den*die autistische*n Partner*in, sei es problematisch für beide Seiten. "Wenn der*die nicht-autistische Partner*in nicht in der Lage ist, sich ein eigenes Sozialleben aufzubauen, wird die Beziehung extrem schwierig – für alle Beteiligten: Für den*die nicht-autistische*n Partner*in genauso wie für den*die Autisten*in", betont die Expertin. "Man muss sein*ihr eigenes Leben haben – unabhängig von dem*der Partner*in."

Autistische Menschen sagen die Dinge so, wie sie sie meinen.
Christine Preißmann in ihrem Buch Asperger – Leben in zwei Welten

Wenn man diese Unabhängigkeit von dem*der Partner*in entwickle, sei die Beziehung mit einer autistischen Person nicht nur mit Herausforderungen verbunden, sondern vor allem mit vielen Bereicherungen, meint Dorothea.

Autistische Menschen sind sehr zuverlässige Gesprächspartner*innen

Auch die Psychotherapeutin Christine Preißmann schreibt in ihrem Buch Asperger – Leben in zwei Welten: "All die Eigenschaften der Betroffenen, die in der für den autistischen Menschen oft so fremden Welt manchmal nicht unbedingt auf den ersten Blick als Qualitäten erkannt werden, kann man in eine solche Liebesbeziehung einbringen." Was sind das für Qualitäten, die autistische Menschen in Liebesbeziehungen einbringen können?

Für Dorothea liegen die größten Qualitäten genau dort, wo auch die größten Herausforderungen bestehen: in der Kommunikation. Ihr klarer und unmittelbarer Gebrauch von Sprache mache autistische Menschen zu sehr zuverlässigen Kommunikationspartner*innen, findet sie: "Wenn mein Mann mir ein Kompliment macht, dann ist es auch hundertprozentig so gemeint. Er würde nie ein Kompliment machen, wenn er es nicht so meint."

Auch Psychotherapeutin Christine Preißmann schreibt in ihrem Buch: "Autistische Menschen sagen die Dinge so, wie sie sie meinen." Die Expertin betont jedoch: "Daraus ergibt sich aber auch die Bitte, Aufforderungen oder Erklärungen so klar und präzise wie möglich mitzuteilen." Preißmann erklärt im Interview: "Man muss autistischen Menschen ganz gezielt sagen, was man von ihnen erwartet."

Das sei etwas, das sie als nicht-autistische Person habe trainieren müssen, sagt Dorothea. In der Beziehung zu ihrem Mann habe sie lernen müssen, selbst Wünsche, mit denen sie sich sehr verletzlich fühlte, direkt und offen an- und auszusprechen. Damit ihr Mann die Chance hatte, sie überhaupt erfüllen zu können.

Dorothea ist glücklicher als in ihren Beziehungen zu neurotypischen Menschen

Über Jahre hinweg sei ihr Mann regelmäßig über ihren Geburtstag verreist – ohne sie –, erzählt Dorothea. Ein Geschenk habe er ihr nicht besorgt. Auch keine Blumen. "Er selbst macht sich überhaupt nichts aus Geburtstagen", sagt Dorothea, "und er hatte keine Ahnung, dass diese Dinge für mich vielleicht wichtig sein könnten." Dorothea musste sich überwinden, ihre Bedürfnisse direkt und offen zu kommunizieren: "Ich musste meinem Mann sagen: Ich wünsche mir, dass du dir an meinem Geburtstag frei nimmst und mir dieses oder jenes Geschenk besorgst", erzählt sie.

Mich hat der Autismus meines Mannes zu einem besseren Menschen gemacht.
Dorothea

Keine leichte Übung. Und doch ist Dorothea überzeugt, dass die unmittelbare Art der Kommunikation, die sie durch den Autismus ihres Mannes habe erlernen müssen, sie erheblich weitergebracht hat. Sie sei ehrlicher geworden. Direkter. Authentischer. "Ich frage mich inzwischen automatisch: Bin ich gerade aufrichtig? Bin ich aufrichtig zu anderen Menschen?", erzählt Dorothea. "Mich hat der Autismus meines Mannes zu einem besseren Menschen gemacht", sagt sie, "weil ich immer mehr Lügen, auch Selbstlügen, aufgegeben habe."

Mich fasziniert gerade das Autistische.
Dorothea

Auf den Autismus ihres Mannes möchte sie nicht verzichten. "Die neurotypischen Beziehungen, die ich geführt habe, waren stinklangweilig", erzählt sie. Dorothea ist sich sicher: "Der Autismus meines Mannes bereichert mein Leben." Vielleicht sei sie in einer rein neurotypischen Beziehung niemals glücklich geworden, sagt sie: "Mich fasziniert gerade das Autistische und ich liebe meinen Mann so wie er war, wie er ist und wie er sein wird."

Mehr Einblicke ins Leben mit zwei Asperger-Autisten gibt Dorothea auf ihrem YouTube-Kanal Galoxee's Asperger TV.