Traubensaft, den will der kleine Junge. Seine Babysitterin soll ihm ein Glas voll einschenken. Philip öffnet die Lippen und stottert "T-t-t" heraus. Wahrscheinlich starrt ihn das Mädchen an, deshalb hält er den Blick gesenkt. Ihr Armband klimpert, der Kühlschrank brummt, aus einem winzigen Fernseher murmeln Stimmen, draußen rufen sich die Nachbarn etwas zu. S-A-F-T.

Er kann die Laute einfach nicht zusammenfügen. Das Klimpern, Wummern und Schreien um ihn herum schwillt in seinen Ohren an, bis es sein ganzes Gehirn beherrscht. Die Babysitterin streckt die Hand nach seinem Arm aus, gleich wird sie ihn berühren. Sie soll ihn in Ruhe lassen. Der kleine Junge packt den Mini-Fernseher und wirft ihn nach ihr.

Philip Martin-Nielson, geboren in Middletown bei New York, ist drei Jahre alt, als die Ärzt*innen Autismus diagnostizieren und seiner Familie raten, ihn in eine spezielle Einrichtung einweisen zu lassen. Er wird nie ein selbstständiges Leben führen können, prophezeien sie.

Autismus – an der Grenze zur Normalität

Autist*innen nehmen die Welt anders wahr: Sie können die Flut an Sinnesreizen nicht kanalisieren, sodass sie sich überfordert fühlen. Die sozialen und emotionalen Signale anderer Menschen können sie nicht instinktiv verstehen und verhalten sich daher nicht immer angemessen.

Es gibt einige Autist*innen, deren Intelligenz gemindert ist. Es gibt manche, die als Genies mit besonderen Fähigkeiten brillieren. Und es gibt viele, die sich mehr oder weniger unauffällig in den Alltag fügen. Weil das Phänomen so vielfältig ausgeprägt und die Grenze zur Normalität fließend ist, spricht man heute von Autismus-Spektrum-Störung. Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus schätzt, dass von tausend Menschen sechs bis sieben betroffen sind.

Philip gilt als stark autistisch: Der Dreijährige vermeidet Augenkontakt, kann nicht sprechen, rennt hibbelig hin und her und empfindet Berührungen als aufdringlich. Wenn seine Mutter ihn in den Arm nimmt, windet er sich schreiend heraus. Am liebsten spielt er alleine, malt, tanzt zu einer Fernsehsendung mit Plüschdinosauriern und baut sich eine Glitzerwelt aus Prinzessinnen. Seine Mutter gibt ihn nicht ab – gegen den Rat der Ärzt*innen.

"Ballett rettete mein Leben."

"Ich will Ballett machen", sagt er mit vier Jahren, und es ist der allererste Satz, den er überhaupt von sich gibt. Seine Mutter zeigt sich allerdings wenig begeistert von dem Wunsch und lässt ihn männlichere Sportarten ausprobieren.

Doch im Baseball jagt er nur Schmetterlingen hinterher, Karate hasst er. "Da ist keine Musik", sagt Philip. "Ich möchte Musik hören und mich dazu bewegen." Schließlich darf er doch zum Ballett, und seine Eltern staunen: Noch nie zuvor hat er es geschafft, sich so zu konzentrieren wie in dieser Stunde. Noch nie sah er so frei aus.

Die Ballettlehrerin klatscht mit den Händen den Rhythmus der Musik. Der Boden knarrt unter dem Gewicht der Schüler*innen, ihre Füße wischen über den Grund, vor dem Fenster sirren Insekten, zwei Mädchen wispern sich etwas zu. Philip vernimmt Töne, die außerhalb des üblichen menschlichen Hörbereichs liegen und ihn so ablenken, dass er sich wie gelähmt fühlt.

Seine Mutter, die als Krankenschwester arbeitet, sucht nach Therapien und stellt ihren Sohn den besten Mediziner*innen vor. So muss er schließlich im Unterricht Kopfhörer aufsetzen, die übertragen, was die Lehrer*innen ins Mikro sprechen. Später absolviert er ein Training, bei dem ihm Geräusche mit wechselnder Lautstärke vorgespielt werden, um sein feines Gehör zu dämpfen und die Aufmerksamkeit zu fokussieren. Aus seiner Sicht wirkt alles verkleinert, was eine Zeitlang durch eine Prisma-Brille ausgeglichen wird. Mit viel Übung kann er plötzlich das überwältigende Buchstabengewusel auf einem Blatt sortieren. Eine Sprachtherapie korrigiert sein Lispeln und Stottern. Er trainiert hart, doch seine Liebe zum Tanz macht ihn zum Außenseiter.

Durch die Musik kann er sich ausdrücken

Als ein Lehrer in der Grundschule fragt: "Was wollt ihr werden, wenn ihr groß seid?", schreibt Philip an die Tafel: Ballettlehrer. Gelächter bricht aus, und seine Mitschüler*innen machen sich über ihn lustig. Weinend versteckt er sich unter dem Tisch.

In diesem Moment erkennt er, dass er gehänselt und gequält wird, wenn er diesen Weg wählt. Er geht ihn trotzdem.

Während die anderen im Pausenhof Fangen spielen, stellt er drinnen Musik an und bewegt sich. Damit kann er sich ausdrücken, und durch die Geschichten, die im klassischen Ballet pantomimisch erzählt werden, lernt er, die Gefühle in anderen Gesichtern zu lesen. "Du siehst aus wie Giselle im zweiten Akt", sagt er, wenn er eine Mimik wiedererkennt. Durch das Zusammenspiel im Tanz versteht er, wie man sich in einem Gespräch verhält: dass man abwartet, bis der andere fertig gesprochen hat.

Trotzdem eckt Philip mit seinem Verhalten immer wieder an, auch in der Ballettklasse. Er zappelt herum vor Freude, wenn eine neue, noch elegantere Armhaltung geübt wird, und bequatscht andere mit Details. Ballett wird zu seiner Obsession, und vor allem die Rolle der Odette hat es ihm angetan. Irgendwann, hofft der Junge, wird er sich in diese Schwanenkönigin verwandeln.

Ausgerechnet die gefürchtetste Lehrerin der Schule soll ihm dabei helfen: Der Zwölfjährige will bei Natasha Barr Privatstunden nehmen, damit sie ihn auf eine professionelle Karriere vorbereitet. Sie lehrt russischen Stil mit amerikanischer Rasanz und gilt als sehr streng. Dabei war Philip anfänglich kein idealer Ballettanwärter: pummelig mit krummen Beinen und nicht genug Auswärtsdrehung in der Hüfte. Aber die Lehrerin erkennt, wie leidenschaftlich er sich bemüht, es richtig zu machen.

Heimlich auf Spitze tanzen

Für Philip wird Natasha Barr wie eine Mutter, die ihn von der Schule fürs Training abholt und gegen 21 Uhr nach Hause fährt. Sie rät ihm, sich bei der School of American Ballet zu bewerben, der Kaderschmiede für das renommierte New York City Ballet.

Auch wenn der 15-Jährige schnell merkt, dass das Ensemble nichts für ihn ist, zieht er die prestigeträchtige Ausbildung durch. Im Studierendenwohnheim übt er heimlich, auf Spitze zu tanzen – eine Technik, die eigentlich Frauen vorbehalten ist. Zwar hatte er schon mit zwölf Jahren damit begonnen, weil er alles Graziöse liebt und die Rolle der Ballerina für die Partner*innenarbeit verstehen will. Doch in der Akademie sind Männer in Spitzenschuhen nicht erwünscht.

Umso mehr überrascht es ihn, als er dort einen Aushang fürs Vortanzen bei einer Travestie-Truppe entdeckt: Les Ballets Trockadero de Monte Carlo. Die New Yorker Kompanie mit 19 Tänzer*innen tourt seit Jahrzehnten um den Globus und hat sich den Ruf erworben, auf höchstem technischen Niveau klassische Stücke zu parodieren. Sprich: Kerle im Tutu tanzen Schwanensee.

Teils verulken sie das Ballett, teils zeigen sie Passagen voller Hingabe an diese Kunst. Fünf Tage vor Philips Abschluss probt er mit den Trocks und wird engagiert.

Drei Eigenschaften erwartet der künstlerische Leiter Tory Dobrin: tänzerisches Können, Humor, aber vor allem Teamfähigkeit. Dass Philip Autist ist, ahnt er nicht. "Alle unsere Tänzer sind ohnehin ein wenig exzentrisch", meint Dobrin. Der 18-Jährige lernt, Wimpern wie Rabenschwingen anzukleben und mit goldener Perücke Pirouetten zu drehen. Und dann ergibt sich die große Chance.

Philipp wird zur Schwanenkönigin

Eines Tages, als Philip zwei Jahre mit den Trocks getourt ist, brütet sein Chef über dem Plan für die Besetzungen. Einige Tänzer*innen hatten sich verletzt, und Tory Dobrin befürchtet, dass ihm Ersatz-Darsteller*innen für die Schwanenkönigin fehlen könnten. Am Freitag kündigt er Philip an, dass er die Rolle am Montag mit ihm durchgehen will.

Philip tanzt vor und beherrscht Odette bis ins Detail, nicht nur die allseits bekannten Schritte, auch sämtliche Nuancen des Gesichts und alle Scherze. "So etwas ist mir in 40 Jahren noch nicht vorgekommen", wundert sich Dobrin. Er vermutet, dass sein Tänzer übers Wochenende Videoaufnahmen studierte. Aber Philip hatte sich alles schon beim Zuschauen vom Bühnenrand aus eingeprägt. Er wollte bereit stehen, wenn er gebraucht würde, und er wusste genau, wie seine Schwanenkönigin dahingleiten würde.

Odettes Körper biegt sich bis in die Fingerspitzen, fließend wie ein Farnblatt. Die Tiara auf ihrem Haupt funkelt. Ihre roten Lippen öffnen sich zu einem Lächeln, das ihren Verehrer Siegfried betört. Eigentlich ist sie zum Schwan verdammt, doch Philips Königin ergibt sich nicht ihrem Schicksal, sondern beherrscht alles mit ihrem Charme und fliegt mit weiten Sprüngen davon.

Wie man das Publikum in den Bann zieht, wie man es dazu bringt, ihm zu folgen und ihn zu verstehen, hat der Tänzer bei Auftritten als Drag-Diva in New Yorker Kneipen erprobt.

Das Klicken eines Fotoapparats in der Loge irritiert den 22-Jährigen immer noch. Um die intime Nähe in einem Pas de deux zuzulassen, muss er sich an seinen Partner erst gewöhnen. Müsste er in die Menschenmenge jenseits des Orchestergrabens hinabsteigen, könnte er das nur schwer ertragen. Deshalb bevorzugt er die Einsamkeit des Hotelzimmers, das familiäre Zusammensein in der Kompanie – oder das Rampenlicht. Die grellen Scheinwerfer schützen ihn: Wenn er ein Solo vor Tausenden Zuschauern tanzt, fühlt er sich sicher.

Die Chancen eines Autisten

"Ich möchte Eltern mit autistischen Kindern Hoffnung geben", sagt der 22-Jährige heute. Seine blonden Locken trägt er zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Selbst in Trainingsklamotten und mit klobigen Wärmestiefeln in Neonpink schlendert er anmutig zu seiner Garderobe im Mannheimer Nationaltheater. Pink leuchtet auch sein Make-up-Koffer mit einem grinsenden Spongebob darauf, seiner Lieblings-Comicfigur.

Während Philip seine Geschichte erzählt, geht er feinfühlig auf Fragen ein. Nur wenn er Witze reißt und lacht, beobachtet er sich auffällig lange im Spiegel. Als wollte er sich seinen Gesichtsausdruck einprägen. Oder als kostete er diesen Anblick aus: ein unbeschwerter junger Mann mit wachem Blick, der durch die Welt reist und eigenes Geld verdient.

Der Kugelschreiber der Journalistin klackert beim Schreiben. In der Nachbar-Garderobe plaudern Kolleg*innen. Draußen brummen Autos vorbei. Philip lässt sich nicht mehr anmerken, wie sehr ihn seine Störung als Kind gefangen hielt. "Der Weg ist hart, aber möglich. Ich bin der lebende Beweis", sagt er. Autismus kann nicht geheilt werden, aber man kann einiges ausgleichen, wenn man die Kinder richtig fördert und ihre Talente erkennt.

Nicht jede*r wird wie durch ein Wunder irgendwann ein selbstständiges Leben führen. "Ich weiß, dass meine Entwicklung eine Chance von eins zu einer Million war", sagt Philip. "Aber Eltern können viel tun. Lasst euer Kind so sein, wie es sein will und liebt es für das, was es kann."