Mit "Tage der Toten" und "Das Kartell" hat er die Machenschaften der mexikanischen Drogenkartelle so authentisch erzählt, dass sich die Kriminellen selbst sogar von seinen Geschichten inspirieren ließen. Im Interview erzählt er von seiner Arbeit als Romanautor, die eher einem Privatdetektiv ähnelt.

ze.tt: Herr Winslow, in Ihren Roman thematisieren Sie die tiefen Abgründe der internationalen Kriminalitätsszene - die skrupellosesten Menschen, die grausamsten  Morde. Kann Sie überhaupt noch irgendetwas schocken?
Winslow: Während der Recherchen für meinen letzten Roman "Das Kartell" über den mexikanischen Drogenkrieg habe ich von Dingen erfahren, die so entsetzlich waren, dass ich sie nicht einmal in den Roman aufgenommen habe. Ich fürchte also, meine Fähigkeit geschockt zu sein gehört der Vergangenheit an. Darüber bin ich nicht glücklich.

Nach den Büchern über all die Grausamkeiten des mexikanischen Drogenkrieges haben Sie sich als nächsten Krimi-Schauplatz ausgerechnet Deutschland ausgesucht. Warum?
Zunächst einmal mag ich Deutschland sehr. Aber ich wollte vor allem, dass die Hauptfigur in "Germany", Frank Decker, mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Er hat im Irak-Krieg gekämpft, seine Kriegsleiden wurden in einem Krankenhaus in Deutschland behandelt. Im Buch wird er nun wieder ausgerechnet in Deutschland mit der harten Realität konfrontiert. Denn es stellt sich heraus, dass alles, was er zuvor im glamourösen, oberflächlichen Miami herausfindet, eine Lüge ist. Die Reise nach Deutschland ist der Wendepunkt der Geschichte.

... der mitten ins deutsche Rotlichtmilieu führt.
Das war so gar nicht geplant. Die Idee für die Geschichte war zunächst: Eine typische, junge Amerikanerin wird vermisst. Als ich die Geschichte entwickelte, musste ich mich fragen, warum sie vermisst wird. Erst dadurch bin ich beim Sexhandel gelandet.

Sie wollten also nicht absichtlich Prostitution in Deutschland thematisieren?
Ich will nicht, dass Menschen denken, in Deutschland dreht sich alles um Prostitution. Zunächst muss man natürlich auch unterscheiden: Manche Frauen entscheiden sich bewusst dafür, das zu tun. Aber es gibt viele, die regelrecht versklavt werden. Einer solchen Geschichte folgt Frank Decker im Buch. Er überlegt, wo diese Frau – eine reiche, amerikanische Schönheitskönigin – sein kann. Sie ist natürlich bei der Elite des Sexhandels zu finden, auf dem höchsten Level. Das findet man leicht in Deutschland.

Wie sind Sie dann in das deutsche Rotlichtmilieu eingetaucht?
Das traurige an meiner Recherche war, dass ich das meiste ganz einfach im Internet herausfinden konnte. Teilweise ist es schwerer, online ein bestimmtes Buch zu finden, als ein Callgirl. Ich bin schnell auf Websites gestoßen, wo Frauen präsentiert wurden, die genauso aussahen, wie ich meine Romanfigur Kim Sprague beschrieben hatte. Ich hätte sogar einfach online buchen und bezahlen können. Selbst eine Vermittlungsagentur, die ich mir für mein Buch ausgedacht hatte, fand ich genau so online – sie hat ihren Sitz in Berlin. Letztendlich habe ich mich dann bei der Suche nach der Vermissten in Deutschland – genau wie meine Figur Frank Decker – über verschiedene Städte an sie heran getastet.

... unter anderem über Berlin, Hamburg, Erfurt. Kennen Sie diese Städte wirklich?
Ich bin kein Deutschland-Experte, aber schon als Privatdetektiv und für "Das Kartell" habe ich zu diesem Land recherchiert. Natürlich war ich auch schon häufiger hier, auch auf der Reeperbahn in Hamburg. Als Krimiautor interessieren mich solche Orte. Nach Erfurt bin ich einmal für eine Lesung gekommen und habe mich sofort in die Stadt verliebt. Als ich dann noch herausfand, dass ein Verbrecherring, wie der in meinem Buch aus Erfurt heraus agiert, dachte ich: Wie genial ist das denn? So konnte ich die Geschichte sehr realistisch erzählen.

Das ist ohnehin Ihre Spezialität. Die Romane über den mexikanischen Drogenkrieg sollen sogar Gesprächsthema bei den Kartellen selbst gewesen sein.
Anfangs hatte ich mir durch Blogs, Zeitungsartikel, Unterlagen aus Gerichtsverhandlungen und von verschiedenen Behörden alle Informationen über den Drogenkrieg beschafft, die ich bekommen konnte. Aber ich wollte die Beteiligten im Buch möglichst authentisch beschreiben. Deshalb führte ich mit denjenigen Kriminellen Interviews, die im Gefängnis saßen. Es war interessant für mich, diesen Personen gegenüber zu sitzen. Ich fragte sie: Was hast du gedacht? Wie hast du dich gefühlt? Natürlich sind die Antworten oft abscheulich – das sind schließlich Mörder, Entführer, Vergewaltiger. Aber es ist ihre Sicht der Dinge. Da ich jahrelang als Privatdetektiv gearbeitet habe, kannte ich diese Art von Begegnungen und konnte damit umgehen.

Sie verfügen dadurch über viele Insider-Informationen. Macht sie das nicht zur Bedrohung für die Kartelle?
Natürlich beherzige ich einige Sicherheitsvorkehrungen. Zum Beispiel werde ich wohl in nächster Zeit eher nicht nach Mexiko reisen. Aber ich bin nur Romanautor, ich enthülle keine neuen Fakten, sondern füge bereits bekanntes zu einem Muster zusammen. Wirklich gefährlich ist es für die mexikanischen Journalisten. Hunderte von ihnen wurden schon ermordet oder umgebracht. Sie sind die wirklich mutigen, nicht ich. Außerdem bin ich Amerikaner und genieße dadurch ein gewisses Maß an Sicherheit. Derzeit haben es die Kartelle ziemlich gut und das werden sie nicht gefährden, indem sie einen US-Amerikaner in dessen Heimatland ermorden.

Stattdessen scheinen sie von Ihren Geschichten inspiriert zu sein. Die letzte Flucht des Drogenboss "El Chapo" Guzmán aus dem Gefängnis ist genauso passiert, wie Sie es zuvor in "Das Kartell" beschrieben hatten.
Es wirkte, als hätte ich es vorausgesehen, dabei war es einfach vorhersehbar für jeden, der sich mit den Kartellen und dem Drogenkrieg beschäftigte. Es konnte gar nicht anders sein. 

Sie schreiben in "Das Kartell" auch darüber, dass ein Drogenboss sich mit einem Drehbuchautor trifft, weil er ein Film über sein Leben produzieren lassen will.
Mein Lektor meinte anfangs, diese Geschichte sei zu weit hergeholt. Aber ich sagte nur: Warte mal ab. Und tatsächlich ist etwas ganz ähnliches passiert: Guzmán hat sich mit Sean Penn getroffen.

"El Chapo" Guzmán ist quasi das reale Pendant zu einer Ihrer Haupt-Romanfiguren. Hat es Sie gestört, dass Sean Penn ein Interview mit ihm führen durfte, nicht Sie?
Ich mag Sean Penn, aber das Stück für den Rolling Stone war ein Witz. Ihm fehlte wahrscheinlich einfach der Hintergrund. Er wusste nicht, was Guzmán alles getan hat. Ich wünschte, er hätte ihm andere Fragen gestellt. Wen interessiert es, dass Guzmán seine Kinder liebt? Ich liebe mein Kind auch, so ist das eben. Aber wegen ihm sind unzählige Menschen tot – auch Kinder. Das interessiert ihn aber nicht.

Wird es von Ihnen ein weiteres Buch über den mexikanischen Drogenkrieg geben?
Ich beschäftige mich damit seit über 20 Jahren. Die Arbeit an den Romanen hat mich verändert. Früher wollten die Kriminellen ihre Gräueltaten noch verheimlichen, heute schicken sie mir Videos davon. Das Problem ist: Wenn du einmal etwas gesehen hast, kannst du das nicht rückgängig machen. Es ist wie ein Film, der sich wieder und wieder an deinen Augenlidern abspielt. Ich denke, ich bin fertig mit dem Thema.