An einem Freitagnachmittag im Dezember 2016 ist der Lastwagenfahrer Krzysztof S. mit seinem Sattelzug im Osten Berlins unterwegs. 11 Meter lang ist sein Fahrzeug, es hat Beton geladen und wiegt gut 35 Tonnen. Sein Weg führt den heute 59-Jährigen durch die Edisonstraße im Stadtteil Oberschöneweide.

Der Verkehr auf der zweispurigen Straße ist zäh. Weiter vor ihm springt eine Ampel auf rot. S. bremst und kommt zum Stehen. Links von ihm verläuft eine weitere Fahrspur, dann eine Straßenbahnhaltestelle. Rechts von ihm befindet sich ein Gehweg.

Dort stehen drei Menschen, zwei befreundete Frauen Anfang 20 und eine 85-jährige Rentnerin. Sie war gerade im nahe gelegenen Supermarkt und trägt die Tüte mit ihren Einkäufen bei sich. Alle drei wollen zur Straßenbahn, die in der Ferne heranruckelt. Die Ampel für die Autos leuchtet noch rot, kann aber jeden Moment auf grün springen. "Beeil dich, nicht dass der LKW uns noch überfährt", sagt die eine junge Frau zur anderen. Sie eilen direkt vor dem Lastwagen über die Straße.

Aus dem Fahrerhaus mehr als zwei Meter über der Straße sieht S. die beiden in dem Moment nicht, wie er zu ze.tt sagt. Die Ampel springt auf Grün. S. tritt aufs Gaspedal, die mehr als 400 PS beschleunigen den Lastwagen auf 11 Kilometer pro Stunde. S. wirft einen Blick in einen der drei Außenspiegel. Er sieht einen Menschenkörper unter seinen Vorderrädern und bremst sofort.

In diesem Moment hören die beiden jungen Frauen Autos hupen und einen Schrei. Sie wirbeln herum und sehen die Frau, die eben noch neben ihnen stand, auf dem Boden liegen. Der Lastwagen hat sie mit zwei seiner fünf Achsen überrollt. Sie blutet stark. Die beiden Frauen rennen zurück, eine von ihnen legt ihren Schal unter den Kopf der 85-Jährigen.

S. sitzt noch immer im Fahrerhaus, der Motor läuft, er zittert am ganzen Körper. Erst als eine herangeeilte weitere Frau die Tür zu seinem Fahrerhaus öffnet und ihm sagt, er solle den Motor abstellen, dreht S. den Schlüssel im Zündschloss um. Wenig später treffen die Feuerwehr und die Ambulanz ein. Die Frau stirbt noch im Notarztwagen. So lässt sich der Fall aus Aussagen von vier Zeug*innen und einem Sachverständigen rekonstruieren.

Hätte S. die alte Frau sehen können?

Alle sagen im Prozess gegen S. aus, der gut zwei Jahre später im Januar 2019 vor dem Amtsgericht Tiergarten stattfindet. Es geht um die Frage, welche Schuld S. am Tod der 85-Jährigen trägt. Aus ihrer Familie ist niemand da, der Anwalt des Angeklagten sagt, sie habe keine Angehörigen.

Die Staatsanwaltschaft wirft S. fahrlässige Tötung vor, die mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden kann. S. sei angefahren, ohne sich zu vergewissern, dass sich vor ihm keine Fußgänger*innen mehr auf der Fahrbahn befänden. Der Anwalt des Angeklagten ist von der Unschuld seines Mandanten überzeugt. Er habe an dieser Stelle nicht damit rechnen müssen, dass Menschen die Fahrbahn überqueren und habe die Frau zudem nicht sehen können.

Tatsächlich befindet sich an der Stelle, an der die Frau starb, keine Fußgängerampel oder ein markierter Fußgängerüberweg. Dennoch lädt die Stelle dazu ein, hier die Straße zu überqueren. Der Bordstein ist abgesenkt und das Geländer, das Straße und Haltestelle trennt, hat hier eine Lücke von etwa drei Metern. Wer eine Ampel benutzen will, muss dagegen etwa 50 Meter weiter gehen, die Straße überqueren und dann auf einem Weg an den Gleisen wieder 50 Meter zurück zur Haltestelle gehen. Sowohl der Sachverständige als auch der Polizist vom Verkehrsunfallkommando, der den Fall bearbeitet hat, sagen aus, dass viele Menschen an dieser Stelle die Straße überqueren.

Aber hätte S. die Frau nicht sehen können? Immerhin lief sie direkt vor seinem Lastwagen auf die Straße. Mit dieser Frage hat sich ein Sachverständiger auseinandergesetzt, der viele Skizzen in den Gerichtssaal mitbringt. Er hat ausgemessen, welche Teile der Straße und des Gehwegs S. aus seinem mehr als zwei Meter über der Straße liegenden Fahrer*innenhaus und in den drei Spiegeln sehen konnte. Tatsächlich habe es nur einen kurzen Moment von etwa zwei Sekunden gegeben, in denen S. die Möglichkeit hatte, die Frau zu sehen. In neueren Lastwagen ist noch ein vierter Spiegel angebracht, der einen besseren Überblick ermöglicht hätte, aber S. fuhr keinen solchen Wagen und für ältere Modelle ist dieser vierte Spiegel keine Pflicht.

"Ich schlafe bis heute schlecht"

S. selbst sagt vor Gericht nicht aus. Sein Anwalt sagt, sein Mandant sehe sich dazu nicht in der Lage. Zu ze.tt sagt er nach dem Prozess, er leide bis heute unter dem Vorfall und schlafe schlecht. "Ich fahre seit 1983 LKW und bis dahin ist nie etwas passiert." Noch immer erschrecke er, wenn er im Lastwagen sitze und hinter ihm jemand hupe. "Ich denke dann, dass wieder etwas Schlimmes passiert ist."

Zu einem Urteil gegen S. kommt es nicht. Das Gericht stellt das Verfahren gegen S. gegen eine Geldauflage in Höhe von 1.000 Euro ein. "Es ist immer eine schwere Entscheidung, ein Verfahren einzustellen, wenn ein Mensch stirbt", sagt der Richter. Aber in diesem Fall treffe S. nur eine ganz geringe Schuld. Zudem sei der Angeklagte bis jetzt noch nie straffällig gewesen.

Die Unfallstelle ist bis heute unverändert. © Illustration: Elif Kücük /​ ze.tt

Welche Schuld trägt die 85-Jährige an ihrem eigenen Tod? Sind die baulichen Gegebenheiten vor Ort mitverantwortlich? Auf diese Fragen gibt der Prozess keine Antworten. So bleibt das Gefühl, dass eine Verkettung falscher Entscheidungen und eine kleine Unaufmerksamkeit zum Tod einer Frau geführt haben. Um zukünftige Unfälle an dieser Stelle zu vermeiden, könnte es helfen, das Geländer durchgängig zu gestalten oder Markierungen am Boden anzubringen. Doch nach Angaben des im Prozess vorgeladenen Polizisten sieht die Stelle heute noch genauso aus wie im Dezember vor mehr als zwei Jahren.

Update 28. Januar 2019: In einer früheren Version des Artikels war von einer Geldstrafe die Rede. Richtig ist der Begriff der Geldauflage. Wir haben dies geändert.