30 Jahre ist es her, dass Michaela Huber auf ihre erste Patientin mit dissoziativer Identitätsstruktur traf. Wie komplex die Diagnose ist, wie langwierig die Behandlung und wie groß das Problem der Glaubwürdigkeit, mit dem die Betroffenen zu kämpfen haben, bekam die psychologische Psychotherapeutin seitdem immer wieder zu spüren. Huber ist über die Jahre zu einer Expertin geworden, was dissoziative Identitätsstrukturen und rituelle Gewalt angeht, sie ist zudem Ausbilderin im Bereich Traumabehandlung, gibt Fortbildungen an der Richter*innenakademie, berät Sonderkommissionen und ist Supervisorin, begleitet also andere ambulant und stationär arbeitende Therapeut*innen bei ihrer Arbeit.

Vor allem aber weiß die Psychotherapeutin, wie es überhaupt dazu kommen kann, dass ein Mensch dissoziative Identitätsstrukturen bildet – sich spaltet, wie es Expert*innen und Betroffene nennen. Hat jemand eine dissoziative Identitätsstruktur, bedeutet das, dass er*sie Teile seiner Identität abspaltet. Diese Anteile nehmen Gefühle wie Wut, Angst und Schmerzen während eines traumatischen Erlebnisses auf und bilden meist eine ganz eigene Persönlichkeit aus.

Für unseren einstündigen Dokumentarfilm über rituelle Gewalt und ihre Folgen haben wir ausführlich mit Michaela Huber gesprochen. Den ersten Teil der Doku kannst du dir hier ansehen, den zweiten Teil der Doku findest du hier. In diesem Protokoll erzählt Michaela Huber von ihren Erfahrungen und erklärt, warum Menschen sich spalten.

Michaela Huber, Psychotherapeutin: "Eine dissoziative Identität ist nicht wie eine Vase, die auf den Boden fällt und zerbricht. Sie wächst gar nicht erst zusammen."

Die ersten beiden Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur kamen glaube ich 1990 zu mir. Das ist jetzt 30 Jahre her, eine davon kenne ich immer noch. Sie sind in dieser Zeit beide weite Wege gegangen, sie waren sehr verschieden. Ich kam nicht in Versuchung, zu denken: Kennst du eine, kennst du alle. Es gibt viele Möglichkeiten, wie jemand sich spalten kann. Man muss eines wissen: Wenn es sehr früh passiert, dass ein Kind massiven Stress erlebt, wachsen bestimmte Sachen gar nicht erst zusammen. Das ist nicht wie bei einer Vase, die auf den Boden fällt und zerbricht. Dabei ist egal, was für Stress das ist, die Gewalterfahrung ist nur eine Art von Stress – jeder Stress, der auf ein Baby oder einen Säugling, auch intrauterin [Anmerkung der Redaktion: Das bedeutet "noch in der Gebärmutter"] einströmt, ist eigentlich zu viel. Und ein Kind, das massiven Stress hat, bekommt alltägliche Funktionen nicht zusammen: Es weiß nicht, was gestern war. Es weiß nicht durchgängig, wie es sich selbst empfindet. Es kann sich nicht gut beobachten. Es ist in der Welt sehr zerfasert. Von Minute zu Minute stellt es sich auf das ein, was gerade los ist. Eine dissoziative Identität ist immer das: Von Anfang an wächst es gar nicht erst zusammen. Viel Stress bedeutet meistens auch viel Gewalt. Nicht nur medizinische Eingriffe, Verlassenheit oder Verwahrlosung im frühesten Alter – all diese Dinge bedeuten natürlich massiven Stress. Sondern meistens noch Gewalt, und sehr häufig auch sexueller Natur. Wenn dieser Stress vor dem dritten, vierten, längstens fünften Lebensjahr passiert, kann sich ein Mensch spalten.

Diese Menschen erleben sich wirklich als so verschieden in ihren Anteilen, als wären sie verschiedene Personen.
Michaela Huber

Wir unterscheiden mittlerweile zwei Formen der Spaltung: Die teilweisen Brüche und das Vollbild der dissoziativen Identitätsspaltung. Teilweise Gespaltene haben es irgendwie geschafft, ein sehr stressempfängliches Alltags-Ich zu halten. Das hat aber massiv andere Ich-Zustände: Zustände eines kleinen Kindes, rotzig-pubertäre Zustände, böse Täterintrojektionen, die in ihrem Kopf sind und sie zwingen, was Schlimmes mit sich zu machen oder andere zu attackieren. Bei einer vollständigen dissoziativen Identitätsspaltung ist es so, dass ein Mensch nicht mal ein Alltags-Ich bilden konnte. Es ist wichtig, das zu wissen. Diese Menschen erleben sich wirklich als so verschieden in ihren Anteilen, als wären sie verschiedene Personen.

Die Anteile sind etwas, was sich im Laufe der Zeit entwickelt. Zunächst sind die Zustände, in denen sie waren, wie eingefroren. Diese kindlichen Zustände können dann genauso reproduziert werden, das nennt man Flashbacks oder Abreaktionen. Andere Menschen haben das später vielleicht auch, aber in diesem Fall sind das Teilidentitäten einer dissoziativen Identitätsstruktur. Da ist plötzlich ein zweijähriges oder ein vierjähriges Kind, das denkt immer das Gleiche, das fühlt, das spricht, das versteht bestimmte Witze nicht. Das malt auf eine bestimmte Weise, nimmt den Stift auf eine bestimmte Weise in die Hand. Das nennt man dann Teilidentität. Diese Teilidentitäten verkörpern häufig traumanahe Zustände.

Es kann dabei Identitäten geben, die vom anderen Geschlecht sind. Sie sind entweder in der Fantasie entstanden oder Figuren, die man irgendwoher inkorporiert und aufgenommen hat. Anteile können auch ein Abbild anderer Menschen sein, mit denen sie sich identifiziert haben. Das hat damit zu tun, dass wir als soziale Lebewesen von anderen lernen. Wir nehmen andere in uns auf, im Guten wie im Schlechten. Wir alle haben Abbilder unserer Eltern in uns. Das merken wir vielleicht, wenn wir freudig sagen: "Oh, da bin ich wie Mutter!" Oder bestürzt: "Ohje, da bin ich wie meine Mutter." Damit setzen wir uns auseinander. Aber wer so eine Identitätsstruktur hat, nimmt alles auf, ohne es in eine einzige Alltagspersönlichkeit zu integrieren. So entwickeln diese Teilidentitäten ein Eigenleben.

Wie stabil die Anteile sind, hängt davon ab, wann und wie häufig sie abgefragt oder – wie man es nennt – getriggert werden. Manches ist wirklich wie verbunkert und taucht unter Umständen erst in der Therapie wieder auf, wenn wir daran arbeiten, dass bestimmte Ereignisse in ihren Abläufen zusammengetragen werden. Dann sieht man plötzlich Teilidentitäten, die etwas dazu erzählen, teilweise auch zur Überraschung der Alltagspersönlichkeit, weil sie das gar nicht weiß, weil sie amnestisch dafür ist.

Wenn wir Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung nicht helfen, haben sie lauter Brüche in ihrem Leben.
Michaela Huber

Ob Anteile irgendwann zusammengehen oder verschwinden, hängt davon ab, wie sich die Persönlichkeit im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Schafft sie es, Teilidentitäten ihre Erfahrungen austauschen zu lassen? Das heißt, die Membrane, die um die einzelnen Teile herum sind, löchriger werden zu lassen, so dass sie zusammengehen können? Oder bleiben sie in ihren Abfolgen getrennt? Viele möchten sehr gerne bestimmen oder kontrollieren, ob Anteil A, B oder C da ist, aber das schaffen sie nicht. Deshalb brauchen wir jemanden von außen, der*die die Botschaften und Informationen des Anteils A an die anderen weitergibt und Brücken zwischen ihnen baut – so lange, bis diese, im Körper wie im Kopf, mehr zusammengehen können. Sie schaffen es nicht alleine, sich zu erkennen, sich wahrzunehmen, sich zu koordinieren. Davon hängt sehr viel ab, deswegen brauchen sie in der Regel Hilfe von außen.

Denn sonst sind lauter Brüche in ihrem Leben da: Wenn sie kochen, malen oder nach draußen gehen. Dann ruft jemand an, dann ist wieder ein anderer Anteil da. Derweil verkocht etwas auf dem Herd, weil sie gerade nicht in dem Anteil sind, der gekocht hat. Das ist auf Dauer ein ziemlich schwieriges Leben mit so einer Identitätsstruktur. Wir helfen, dass sie sich untereinander bemerken. Mit dem Ziel, dass sie sich die Informationen weiterreichen können. Zum Beispiel, um zu sagen: "Was ist denn da heute Morgen mit dem Freund passiert?" Da ist so ein komisches Gefühl, als könnte man nicht nach Hause kommen. Dann sagt ein anderer Anteil: "Du, wir hatten einen Streit." Dann sagt der Anteil eines kleinen Kindes: "Der schlägt mich bestimmt, der ist jetzt bestimmt nie wieder für mich da." Im inneren Kopf sollte man diese Informationen austauschen können, damit man einigermaßen koordiniert und vernünftig handeln kann. Aber wer solche Teilidentitäten aufgebaut hat, hat damit spontan erst mal große Schwierigkeiten.

Dann kann es zu Zeitverlusten kommen. Zum Beispiel, wenn ein Anteil da ist und etwas macht, was er gerade machen kann, will, muss. Er erlebt dabei vielleicht kommentierende Stimmen im Kopf oder etwas, was sehr bedrängend ist – einen Schmerz, einen Gefühlszustand –, weiß aber nicht, was das ist. Plötzlich drängt dieser andere, massive Angstzustand, der traumanah ist, mit einer zehnjährigen Teilidentität, dass sie jetzt ein Buch lesen muss, weil sie sonst noch mehr Angst kriegt. Das wird beiseitegeschoben, die Alltagspersönlichkeit kommt irgendwann zu sich und denkt: Jetzt wollte ich doch diese Arbeit hier zu Ende führen, wo ist die Zeit geblieben? Zwischen den einzelnen Membranen dieser Teilidentitäten gibt es häufig sogenannte amnestische Barrieren. Die kriegen sich am Anfang zu wenig mit. Zum Beispiel wissen wir, dass früher fünf Prozent wussten, dass sie multipel sind, weitere 25 Prozent ahnten es. Den Rest finden wir erst im klinischen Setting. Sie denken, sie sind so vergesslich. Die Partner*innen denken, sie sind so launisch. Da sie nicht wissen, was los ist, denken sie, es ist normal.

Es ist wichtig, dass jeder, der im oder mit dem Gesundheitswesen arbeitet, die Diagnosen kennt und eine gute Diagnostik gemacht wird.
Michaela Huber

Ich hatte mal eine Klientin, die ist als Studentin zur Studienberatung gegangen, weil sie sich überfordert fühlte. Da fragte man sie unter anderem: "Können Sie erzählen, ob Sie sich als Kind in der Schule auch schon überfordert gefühlt haben?" Da lachte sie auf einmal und sagte: "Das weiß ich doch nicht!" Erst, als die Studienberaterin nicht mitlachte, hat sie den Verdacht bekommen, dass sich andere Leute erinnern können an das, was früher war. Sie hatte als Alltagsperson nur drei oder vier Erinnerungen. Sie ist auf dem Land aufgewachsen, mit Kühen und Schafen und so, mehr weiß sie nicht. Das war die Erinnerung an ihr Zuhause.

Es ist wichtig, dass jeder, der im oder mit dem Gesundheitswesen arbeitet, die Diagnosen kennt und eine gute Diagnostik gemacht wird. Wir hatten früher als traumabedingte Diagnosen eigentlich nur PTBS, die posttraumatische Belastungsstörung. Jetzt haben wir in den großen, verbindlichen Diagnosehandbüchern die komplexe posttraumatische Belastungsstörung. Das bedeutet, dass Leute Pulsdurchbrüche haben, dass sie Bindungsstörungen haben, dass sie ihre Körper zu viel oder fast gar nicht fühlen. Dass sie ständig Schuldgefühle, ein ganz schlechtes Selbstwertgefühl und Scham haben. Alles bedingt durch meistens frühe und langjährige Traumatisierung.

Im Zuge dieser Diagnosenentwicklung hat man festgestellt, dass es Menschen gibt, die sehr viel Dissoziation benutzen, also so Entfremdungserlebnisse. Sie schieben Sachen auseinander, hören ihre Stimme mit einem weiten Nachhall, hören plötzlich gar nichts mehr oder können kurzfristig nichts mehr sehen. Sie haben immer wieder Amnesien, sie haben immer wieder das Gefühl von Déjà-vus: Ich kenne diesen Weg hier, ich bin den schon x-mal gefahren, und plötzlich kommt er mir ganz fremd vor. Diese Art von Entfremdungserlebnissen nennt man Dissoziation.

Kinderpornografie oder Kinderprostitution (…), solche Schrecken will man in der Gesellschaft nicht haben. Da gibt es immer eine Abwehr, sich damit auseinanderzusetzen. Aber es lohnt sich, das zu tun.
Michaela Huber

Dann hat man geguckt, ob Menschen auch in der Struktur ihrer Persönlichkeit so weit auseinandergeschoben sind. Aber wir brauchten lange, um zu verstehen, was das Gehirn damit macht. Wir brauchten lange, um Studien dazu zu haben. Um MRT- und EEG-Bilder zu haben, anhand derer man sagen konnte: Das kann man nicht spielen. Selbst wenn Schauspieler oder Schauspielerinnen verschiedene Rollen spielen, so intensiv, wie sie es nur können – die Hirnmuster sind anders, wenn jemand dissoziiert und in andere Teilidentitäten geht. Und das hat uns dazu geführt, dass wir international auch die Diagnosen verbessert haben, Diagnoseinstrumente entwickelt haben, um Leute, die kommen und uns ein paar Phänomene davon zeigen, genau zu diagnostizieren. Was genau hast du – ein bisschen strukturelle Dissoziation, tiefe strukturelle Dissoziation oder bist du gar multipel? Heute können wir das.

Es gibt Jekyll-and-Hyde-Horrorgeschichten, davor hat jeder Angst. Dass ein Mensch sich so verändern kann, dass er janusköpfig ist, zwei Seiten hat, eine freundliche und eine bösartige Seite. Aber die meisten Leute, die das haben, sind keine Kriminellen, sondern haben einfach abgespaltene Opferanteile von früher, weil sie Unerträgliches erleiden mussten. Ich glaube, es gibt auch deshalb eine große Leugnung, weil Menschen, die viel Gewalt erlebt haben und die, die hoch dissoziativ sind, also zum Beispiel Multiple, oft sehr viel sexuelle Gewalt erlebt haben. Denn das ist die Gewaltform, die am zerstörerischsten ist und die Identität am meisten aufsprengt. Kinderpornografie oder Kinderprostitution – wir würden sagen, Kinderfolter beziehungsweise Kinderfolterdokumentation –, solche Schrecken will man in der Gesellschaft aber nicht haben. Da gibt es immer eine Abwehr, sich damit auseinanderzusetzen. Aber es lohnt sich, das zu tun.

Schau hier unsere komplette Doku "Wir sind die Nicki(s)":

Teil 1: "Wir sind die Nicki(s)" – Wie eine Frau mit sieben Persönlichkeiten lebt

Teil 2: "Wir sind die Nicki(s)" – Die größte Gefahr ist die eigene Familie

Hilfe holen

Hilfe bietet die bundesweite, kostenfreie und anonyme telefonische Anlaufstelle berta unter der Telefonnummer 0800 3050750, sie richtet sich an Betroffene organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt, sowie an Angehörige, Helfende und Fachkräfte.

Das Hilfetelefon sexueller Missbrauch  erreichst du unter 0800 22 55 530, es ist die bundesweite Anlaufstelle für Betroffene von sexueller Gewalt, für Angehörige sowie Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern, für Fachkräfte und für alle Interessierten. Beide sind kostenfrei und anonym.