In Deutschland können Menschen, die nichts verbrochen haben, in Haft kommen – nämlich dann, wenn sie abgeschoben werden sollen. Frank Gockel kämpft seit 25 Jahren gegen diese Praxis. Ein Interview

Hinweis: In folgendem Text wird physische und sexualisierte Gewalt explizit beschrieben.

Die Stadt Büren befindet sich südlich von Paderborn, hat etwa 20.000 Einwohner*innen – und das bislang größte Abschiebegefängnis Deutschlands. Hinter 6,5 Meter hohen Mauern und Nato-Draht ist Platz für bis zu 140 Menschen.

Sie sind nicht inhaftiert, weil sie eine Straftat begangen haben. Sie werden dort festgehalten, weil der Staat ihre Abschiebung sicherstellen will – beispielsweise, weil die Abschiebung ohne Inhaftnahme erschwert werden würde, eine Person zu einem Termin nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, oder der begründete Verdacht besteht, dass sich eine Person der Abschiebung entziehen will.

Seit 25 Jahren gibt es die Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige Büren, wie das Abschiebegefängnis offiziell heißt. Seit 25 Jahren besucht der Geflüchtetenberater Frank Gockel jeden Donnerstag Inhaftierte in Büren. In dieser Zeit hat er mehr als 7.000 Abschiebegefangene kennengelernt. Zusammen mit dem Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren engagiert er sich gegen diese Form des Freiheitsentzugs. Warum, hat er uns in einem Gespräch erzählt.

ze.tt: Herr Gockel, was ist das Problem an Abschiebehaft?

Frank Gockel: Ich inhaftiere jemanden für bis zu 18 Monate – nur um ihn außer Landes zu bringen. Wenn ich mir überlege, wie viele Tüten Bonbons ich klauen müsste, um 18 Monate ins Gefängnis zu kommen – da bräuchte ich einen sehr großen Bonbon-Vorratsraum. Aber der Staat darf Leuten ihrer 

Freiheit berauben, nur um sie abzuschieben, also um einen reinen Verwaltungsakt durchzuführen. Was würde passieren, wenn jemand immer falsch parkt, und um den Verwaltungsakt durchzusetzen, dass der nicht mehr falsch parkt, nehme ich ihn eine Woche in Haft? Da gäbe es einen Aufschrei. Aber im Bereich der Abschiebung wird das akzeptiert.

Außerdem bei ZEIT ONLINE: Abschiebehaft: "Warum bin ich im Gefängnis?"

Wie gerät jemand in Abschiebehaft?

Seit der Verabschiedung von Horst Seehofers Geordnete-Rückkehr-Gesetz (PDF) gibt es eine Menge neuer Haftgründe. Zum Beispiel, wenn eine Person am Tag ihrer Abschiebung nicht zu Hause angetroffen wird. Gleichzeitig wurde ein Gesetz verabschiedet, dass die Abschiebung nicht mehr angekündigt wird. Wie sollen die Leute also den Termin ihrer Abschiebung wissen?

Oder: Habe ich zwei Straftaten begangen, wovon eine mit einer freiheitsentziehenden Maßnahme bestraft wurde, reicht das als Grund, vor meiner Abschiebung in Abschiebehaft zu kommen. In Bayern hat jede*r, die*der illegal über die Landesgrenze kommt, ein Strafverfahren zu illegalem Grenzübertritt am Hals und bekommt ein paar Tagessätze aufgebrummt. Kommt dann noch eine Anzeige wegen Schwarzfahrens hinzu, ist das ein Grund für Abschiebehaft.

Der*die Haftrichter*in beschließt, dass eine Person in Abschiebehaft kommt. Was passiert, wenn sie dort ankommt?

Eine der ersten Sachen, die dort passiert, ist, dass die Menschen in die Kleiderkammer müssen. Dort müssen sie sich komplett entkleiden. Dann findet eine Körperhöhlendurchsuchung statt. Dabei wird in Mund, Nase, Ohren und After nachgesehen. Inhaftierte Frauen gibt es aktuell keine in Büren. Die Durchsuchung erfolgt – wenn die Person sich weigert – unter Zwang.

Die praktischen Konsequenzen muss man sich einmal vorstellen. Ich habe in Büren einen Mann kennengelernt, der auf der Flucht vergewaltigt worden ist. Er weigerte sich, sich auszuziehen, wurde dann von mehreren Männern festgehalten, während ein anderer Mann ihm mit zwei Fingern im After rumpulte. Das kann zu einer Traumatisierung oder Re-Traumatisierung führen. Ich halte das für ein absolutes No-Go.

[Anmerkung der Redaktion: Mit dem Vorwurf konfrontiert, sagt ein Sprecher der Bezirksregierung Detmold, dass eine solche Körperhöhlendurchsuchung nicht stattfinden würde. Untergebrachte müssten sich lediglich entkleiden und würden dann auf Drogen, Rasierklingen oder ähnliches durchsucht.]

Zum Frühstück gibt es vier Scheiben Sandwichtoastbrot, dazu vier Scheiben Scheiblettenkäse und ein Töpfchen Marmelade.
Frank Gockel

Wie sieht der Haftalltag der meisten Insassen aus?

Die Gefangenen sind in Einzelzellen untergebracht. In der Zelle der meisten Insassen befinden sich Tisch, Bett, Fernseher, Schrank, Stuhl, Toilette, Waschbecken. Morgens zwischen sechs und sieben Uhr gibt es Frühstück. Zum Frühstück gibt es vier Scheiben Sandwichtoastbrot, dazu vier Scheiben Scheiblettenkäse und ein Töpfchen Marmelade. Die Gefangenen sagen uns regelmäßig, das würde weder satt machen, noch schmecken.

Außerdem bei ZEIT ONLINE: "Wir bestrafen niemanden, wir sichern die Ausreise" – Ein Interview mit dem Leiter der Abschiebehaft Büren

Mittags gibt es ein Meyer-Menü, das ist eine Firma in der Gegend, die viele Firmen beliefert. Das ist in Ordnung, man kann aus fünf Menüs auswählen, eines ist immer vegetarisch und eines ohne Schweinefleisch. Abendessen muss momentan wegen Personalknappheit ausfallen. Das wird mittags vom Caterer mitgeliefert. Das sind vier Sandwichscheiben Toastbrot, dazu vier Scheiben Scheiblettenkäse und ein Töpfchen Marmelade.

[Anmerkung der Redaktion: Mit dem Vorwurf konfrontiert, sagt ein Sprecher der Bezirksregierung Detmold, dass Untergebrachte auf Wunsch Nachschlag bekämen. Außerdem gäbe es gemeinsame Kochmöglichkeiten sowie einen Einkaufsladen auf dem Gelände.]

Und nach dem Essen?

In den Vormittagsstunden sind die Menschen in ihren Zellen eingesperrt. Ein Teil kann sich in spezielle Zellen einsperren lassen, es gibt eine Küchenmöglichkeit für vier bis fünf Personen, Zugang zum Internet für vier Personen. Es gibt einen Kraftsportbereich, Tischtennis- und Billardtische. Nachmittags findet der Aufschluss statt. In NRW muss der acht Stunden lang sein. Da kann man sich frei auf dem Flur bewegen und andere Menschen in den Zellen besuchen. Für ein bis zwei Stunden wird der Hof aufgeschlossen.

Kann man Besuch empfangen?

Ja, die Besuchszeit in Büren beginnt um 9.30 Uhr, um 19 Uhr müssen die Leute spätestens gehen. Das Problem ist, dass Büren keinen Bahnhof hat. Als Besucher*in kann man mit dem Zug über Paderborn anreisen und dann mit dem Bus nach Büren. Das Gefängnis ist aber nicht in Büren, sondern acht Kilometer außerhalb. Es gibt keinen öffentlichen Nahverkehr. Das heißt, man muss das Taxi nehmen oder acht Kilometer laufen.

Gibt es auch verschärfte Haftbedingungen?

Ja. In der sogenannten Abteilung 1b-neu befinden sich Gefangene, die gegen die Hausordnung verstoßen haben und sanktioniert werden, oder die psychisch erkrankt sind und sich aufgrund dessen nicht im Haftalltag eingliedern lassen. Ein Beispiel, wie man in die Abteilung kommt: Ich habe vor Kurzem einen Gefangenen kennengelernt, der saß zunächst in der ganz normalen Abteilung und sollte abgeschoben werden. Auf dem Weg zum Flughafen hat er sich vor lauter Angst eingekotet. Daraufhin wurde er vom Piloten nicht mitgenommen und wurde zurück nach Büren gebracht. Aufgrund seines Verhaltens ist er in die Abteilung 1b-neu verlegt worden.

Wie sieht der Haftalltag dort aus?

Dort gibt es vier Stufen, wie Gefangene untergebracht werden. In der ersten haben Betroffene noch ihre ganz normale Zelle mit Einrichtung und Fenster, persönlichen Büchern und Papieren. Der einzige Unterschied ist, dass der Hofgang in den Morgenstunden, so zwischen sechs und acht Uhr stattfindet. Er findet isoliert von den anderen Gefangenen statt. Man ist also alleine. Es gibt auch keinen Aufschluss mehr. Man sieht keine anderen Gefangenen. Das ist aus meiner Sicht Isolationshaft.

In Stufe zwei können dem Betroffenen sämtliche Freizeitmöglichkeiten weggenommen werden. Er kann dann nichts mehr machen, außer aus dem Fenster rausgucken. Die Stufe kann durch Leibkontrollen verschärft werden. Das heißt, alle 15 Minuten wird durch ein Fenster in die Zelle reingeguckt, und der Betroffene muss ein Lebenszeichen von sich geben, also Winken oder einen Laut von sich geben. Das klingt harmlos, ist es auch tagsüber, nachts ist es Folter. Alle 15 Minuten geht das Licht an, wenn ich nicht gerade schnarche, werde ich geweckt, um zu überprüfen, ob ich noch lebe. Die zweite Form dessen ist die Sitzwache. Ein Mitarbeiter guckt dabei 24 Stunden in die Zelle rein. Alles wird beobachtet. Weil das die Mitarbeiter so mitnimmt, lösen die sich alle 15 Minuten ab. Was das für den Gefangenen bedeutet, scheint egal zu sein.

Ein Fall ist schon einer zu viel.
Frank Gockel

Stufe drei ist der besonders gesicherte Haftraum. Dort gibt es kein Fenster, eine Schaumstoffmatratze und -sessel, eine Toilettenanlage, bei der sich die Spülung außerhalb der Zelle befindet, und zwei Videokameras. Stufe vier dient zum angeblichen Schutz vor erheblicher Selbst- und Fremdgefährdung. Also dann, wenn jemand eigentlich dringend ins Krankenhaus oder die Psychiatrie sollte. Dort gibt es einen Holzrahmen in der Zelle, da werden die Leute fünfpunktfixiert.

[Anmerkung der Redaktion: Mit dem Vorwurf konfrontiert, sagt ein Sprecher der Bezirksregierung Detmold, dass nur Untergebrachte, von denen eine Gefährdung ausgehe, in einen anderen Gewahrsamstrakt verlegt werden können. Eine völlige Isolierung von anderen Mitgefangenen fände dort nicht statt. Bei der 15-minütigen Beobachtung würde eine schwache, nicht störende Grundbeleuchtung benutzt werden, kein Untergebrachter würde geweckt werden oder müsse reagieren. Die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum erfolge nur bei erheblicher Selbst- und Fremdgefährdung und bedürften einer richterlichen Entscheidung.]

Wie viele Menschen sind von den Haftbedingungen der Stufe vier betroffen?

Wir reden nicht über viele Fälle. Das Gefängnis hat gegenüber dem Landtag berichtet, die Zahl befände sich seit 2015 insgesamt im einstelligen Bereich. Wir können nachweisen, dass sie sich im zweistelligen Bereich befindet. Aber es geht auch bei einem Fall nicht, ein Fall ist schon einer zu viel. Wenn jemand so suizidal erkrankt ist, müssen die Leute in der Psychiatrie mit geschultem medizinischem Personal untergebracht werden.

1995 haben Sie zusammen mit anderen den Verein Hilfe für die Menschen in Abschiebehaft Büren gegründet. Was macht der Verein, um den Menschen zu helfen?

Wir haben zwei Aufgabenfelder. Innerhalb und außerhalb der Abschiebehaft. Wir versuchen jeden Donnerstag, Menschen in der Haftanstalt zu besuchen. Eine der ersten Fragen, die viele Menschen, die neu sind, stellen, lautet: Warum bin ich hier? Sie verstehen oft gar nicht, dass man in Deutschland inhaftiert werden kann, ohne eine Straftat begangen zu haben. Viele sind ja nach Deutschland geflohen, weil sie sich hier ein Rechtssystem erhofft haben.

Wie komme ich hier wieder raus, lautet die zweite Frage, die sich jeder im Gefängnis stellt. Wir versuchen zu Rechtsanwält*innen zu vermitteln, aber auch Freund*innen und Bekannte zu kontaktieren. Die Leute haben oft Angst, Freund*innen anzurufen. Viele denken sich: Wenn ich sage, ich bin im Knast, dann glauben die doch, dass ich etwas verbrochen habe. Wir organisieren Klamotten, Bücher oder Zeitungen. Letztens habe ich für jemanden in Abschiebehaft die Steuererklärung gemacht. Es ist total unterschiedlich, was Menschen dort brauchen. Fragt man die Gefangenen im Nachhinein, sagen viele: Das wichtigste war, dass jemand da war, der sich solidarisch gezeigt hat, der zuhört, mit dem man reden konnte.

Das Erschreckende: Ich gewinne viele Fälle. Viel zu viele.
Frank Gockel

Beraten Sie auch in rechtlichen Fragen?

Ich beteilige mich oft als Person des Vertrauens an den Verfahren. Ich trete dann quasi als dritte Partei auf und lege in meinem Namen Rechtsbeschwerden gegen Fälle ein, in denen die Abschiebehaft nicht rechtmäßig war. Ich beteilige mich bei Fällen von Personen, die keine*n Rechtsanwält*in haben oder bei denen der*die Rechtsanwält*in aufgegeben hat.

Das Erschreckende: Ich gewinne viele Fälle. Viel zu viele. 2018 lag meine Gewinnquote bei insgesamt knapp 200 Fällen bei 50,4 Prozent. Peter Fahlbusch, der bekannteste Rechtsanwalt für Abschiebehaft, hatte 2018 eine Quote von circa 48 Prozent. Alle Anwält*innen, die sich auf diesem Gebiet auskennen, haben ähnliche Quoten. Wenn ich als juristischer Laie, der sich eingelesen hat, die Hälfte der Fälle gewinne, finde ich das rechtsstaatlich sehr bedenklich.

Es sind also sehr oft Formfehler, gar nicht inhaltliche Dinge, die eine Abschiebehaft nicht rechtmäßig machen. Und das ist nicht hinnehmbar.
Frank Gockel

Warum gewinnen Sie so viele Fälle?

Das Schlimme ist, dass das keine komplizierten Sachen sind. Die Ausländerbehörden, die den Haftantrag stellen, und die Amtsgerichte, die darüber entscheiden, haben von dem, was sie tun, keine Ahnung. Ein paar Beispiele: Vor Kurzem hatte ich einen richterlichen Beschluss, der mit veralteten Gesetzesbeschlüssen aus dem Jahr 2009 gearbeitet hat. Gerade habe ich zwei Fälle, bei denen der Richter zuerst den Beschluss gefasst und dann die Anhörung durchgeführt hat. Jedem*jeder Rechtslai*in ist klar, dass das so nicht geht. Am Anfang muss den Betroffenen der Haftantrag der Ausländer*innenbehörde übergeben und übersetzt werden. Das ist wie im Strafverfahren, wo die Staatsanwaltschaft die Anklageschrift verliest. Das passiert aber häufig nicht, das heißt, der Betroffene weiß gar nicht, worum es geht. Dann muss ein*e Dolmetscher*in anwesend sein. Der*die sollte die Sprache des Betroffenen und die deutsche Sprache sprechen. Häufig ist eines von beidem nicht erfüllt.

Es sind also sehr oft Formfehler, gar nicht inhaltliche Dinge, die eine Abschiebehaft nicht rechtmäßig machen. Und das ist nicht hinnehmbar.

Werden die Personen, deren Abschiebehaft nicht rechtmäßig war, aus der Haft entlassen?

Ich schätze, dass in etwa fünf Prozent der Fälle, die ich gewinne, der Betroffene aus der Haft entlassen wird. Denn ob ich gewinne oder nicht, spielt ja keine Rolle für die Abschiebung. Es geht nur darum, ob die Haft rechtmäßig ist – nicht, ob die Abschiebung rechtmäßig ist. Aber auch Leute, bei denen bereits die Abschiebung erfolgte, profitieren in drei anderen wichtigen Punkten.

Ein Tag ohne Freiheit ist im Bereich der Abschiebehaft durchschnittlich 25 Euro wert.
Frank Gockel

Erstens gibt es ein Rehabilitationsinteresse. Viele sind erleichtert, wenn man ihnen sagen kann, dass das, was mit ihnen passiert ist, unrechtmäßig war. Das zweite sind die Kosten. Ein Tag in Büren kostet 278 Euro. Die Kosten des Gefängnisaufenthalts muss der Betroffene nicht bezahlen, wenn die Haft unrechtmäßig war. Das heißt, wenn die Person wieder legal einreisen will, wartet keine Rechnung auf sie. Wenn man nach der Abschiebung noch Kontakt mit dem Betroffenen hat, kann man darüber streiten, dass er eine Entschädigung bekommt. Das muss man individuell mit der Ausländerbehörde aushandeln. Es gibt keine festen Beträge. Ein Tag ohne Freiheit ist im Bereich der Abschiebehaft durchschnittlich 25 Euro wert. Wenn jemand mein Auto anfährt und ich das nicht benutzen kann, ist das pro Tag 40 Euro wert. Das ist ein interessantes Verhältnis, finde ich. Aber in der Regel verliert sich der Kontakt. Die Schadensersatzfälle sind gering.

Wie lange sitzt ein Betroffener durchschnittlich in Abschiebehaft?

Es gibt keine bundesweite Statistik darüber, wie lange Menschen durchschnittlich in Abschiebehaft sitzen. Das Land NRW führt eine Statistik, die durchschnittliche Haftdauer liegt demnach bei knapp unter 30 Tagen. Wir zweifeln diese Zahlen aber stark an. Es werden aber nicht die Gefängnistage der Gefangenen gezählt, sondern wie lange Buchungsnummern existieren, also die Registrierungsnummern der Betroffenen. Das Problem ist, dass diese wechseln. Zum Beispiel wenn eine Person zum Flughafen gebracht wurde, aber die Abschiebung nicht durchgeführt wurde. Wir fordern, die durchschnittliche Haftdauer der Gefangenen und nicht die durchschnittliche Existenz der Buchnummern zu ermitteln. 

Sitzen Minderjährige im Abschiebegefängnis Büren?

Offiziell gibt es in NRW keine Minderjährigen in Abschiebehaft. Für die Statistik wird das Alter bei Haftantritt verwendet. Teilweise sind die Menschen aber nach Ende der Haft jünger als bei Haftantritt.

Wie das?

Bei unbegleiteten Minderjährigen wird häufig eine Altersfestsetzung durchgeführt. Einen frisch erklärten 18-Jährigen kann man in Abschiebehaft stecken. Dort müssen Passersatzpapiere ausgestellt werden, um die Leute abschieben zu können. Und dabei wird das tatsächliche Alter ermittelt. Es gibt immer wieder Fälle von Leuten, bei denen festgestellt wird, dass sie jünger als 18 Jahre sind.

Teilweise sind die Menschen nach Ende der Haft jünger als bei Haftantritt.
Frank Gockel

Ich war insgesamt zehnmal Vormund eines unbegleiteten Minderjährigen, der aus der Abschiebehaft entlassen wurde. Der jüngste war 14 Jahre alt. Alle werden aber in der Statistik als 18-Jährige geführt. Das erschwert natürlich die politische Arbeit. Wenn die Statistiken sagen, es gab nie Minderjährige in Abschiebehaft, aber es sie de facto gibt, ist es schwierig, damit zu argumentieren.

Sie hatten zu Beginn von zwei Arbeitsbereichen des Vereins gesprochen. Was ist der zweite?

Das ist die politische und Öffentlichkeitsarbeit. Ich habe dieses Jahr zum Beispiel 40 bis 50 Vorträge zum Thema Abschiebehaft gehalten. Ich schule andere Aktivist*innen, die sich gegen Abschiebehaft einsetzen. Sie sind quasi die einzige Lobby, die Menschen in Abschiebehaft haben. Und sie kämpfen gegen riesige Gegenakteure wie Gefängnisse, Ausländerbehörden und den Innenminister.

Was müsste dringend gesetzlich geändert werden?

Jede*r, der*die in Abschiebehaft kommt, sollte eine*n Anwält*in gestellt bekommen, egal ob man will oder nicht – wie in der Untersuchungshaft auch. Und wir brauchen vernünftige Zugänge von NGOs zu den Abschiebegefängnissen – das passiert bereits in einigen, aber nicht in allen.

Sie haben nichts verbrochen. Warum dürfen sie keine Pizza bestellen?
Frank Gockel

Wie könnte Abschiebehaft besser gestaltet werden?

Warum miete ich als Staat nicht einfach ein Mittelklassehotel, bau einen Zaun drum rum und bringe die Leute da unter? Sie haben nichts verbrochen, es gibt keinen Grund dafür, sie wie Strafgefangene zu behandeln. Warum muss ich den Zugang zu Handys und Internet regulieren? Warum dürfen sie keine Pizza bestellen?

Stattdessen werden unter unserem Innenminister Seehofer neue Abschiebehaftanstalten gebaut. Die bundesweiten Plätze für Abschiebehaft sollen von aktuell knapp 500 bis Ende 2020 auf 1.700 erhöht werden.

Würden Sie aufhören, wenn Abschiebehaftgefangene in Hotels untergebracht werden?

Nein. Ich und der ganze Verein sind für die Abschaffung der Abschiebehaft. Klar sind wir Aktive auch Öl im Getriebe der Gefängnisse. Wenn ich jemandem sage, ich helfe dir – auch wenn diese Chance noch so gering ist, derjenige klammert sich daran. Das beruhigt und befriedet die Stimmung in einem Gefängnis. Auch der simple Fakt, dass Leute von außen da sind und sie besuchen. Der Effekt wird von der Gefängnisleitung auch gern genutzt.

Was diese nicht mag, ist, dass man über das, was man in der Abschiebehaft gesehen und erlebt hat, Zeugnis ablegt. Letztes Jahr haben wir beispielsweise die Entlassung der stellvertretende Anstaltsleiterin erwirkt. Wir konnten ihr nachweisen, dass sie viermal den Befehl erteilt hat, Psychopharmaka in das Essen eines Gefängnisinsassen zu mischen. Die Staatsanwaltschaft hat das bestätigt. Das war strafrechtlich nicht relevant, da der Beamte, der das hätte machen sollen, sich mit Verweis auf die Verletzung der Menschenwürde geweigert hat. Eine Anstiftung zu einer Straftat ist aber nur dann strafbar, wenn die Straftat auch ausgeführt wurde. Trotzdem geht das natürlich nicht.

Die Gefängnisleitung will den Blackbox-Charakter der Abschiebehaft aufrechterhalten – auch, damit solche Vorfälle nicht publik werden. Wir wollen Transparenz schaffen, pochen immer wieder auf die Menschenrechte, versuchen Rechte für Menschen durchzusetzen. Das ist ein Störfaktor. Das Interview, das wir gerade führen, ist Sand im Getriebe. Ich stelle mir mindestens einmal im Jahr die Frage: Bist du noch mehr Sand oder schon mehr Öl? Wenn ich feststelle, dass ich mehr Öl bin, würde ich aufhören.