Die EM geht los und trotzdem hält sich das zweijährlich hochkochende Schland-Fieber in Grenzen. Zumindest gefühlt. Zwar werden wir in Supermärkten von Marzipan und Klopapier in Schwarz-Rot-Gold erschlagen, aber vom Partypatriotismus ist auf den Straßen und in Gesprächen kaum etwas zu spüren.

Komisch eigentlich. Liefen doch vor wenigen Monaten noch tausende Menschen jeden Montag durch die Straßen mehrerer deutscher Großstädte und skandierten halb stolz, halb empört, sie wären das Volk. Wahrscheinlich kommen die Autofähnchen, diese furchtbar hässlichen Seitenspiegelkondome, und die falschrum ins Gesicht gemalten Deutschlandfahnen in den nächsten Tagen.

Trotzdem fühlt es sich irgendwie nicht nach der Ruhe vor dem Schlandsturm an.

Das Fanverhalten der anderen

Es gibt sicherlich einige Menschen, die 2012 und 2014 sehnsüchtig auf den Beginn des Turniers und die Eröffnung der diversen Public-Viewing- Locations gewartet haben, aber dieses Jahr angesichts von Pegida und Co. zögern, bevor sie zu ihrer schwarz-rot-goldenen Vuvuzela greifen und sie auf die Fanmeile mitnehmen.

"So einer" möchte man ja auch nicht sein. "So einer", der gegen alle, die "fremd" wirken, hetzt und nicht akzeptieren will, dass Mesut, Jérôme und Leroy genauso einen Platz in der Nationalmannschaft – und wenn wir schon dabei sind: in der Nachbarschaft – haben wie Manuel, Julian und Thomas. Man möchte nicht einmal mit "so einem" verwechselt werden.

Vielleicht halten deshalb einige lieber die Füße still und schieben den Einkaufswagen schnell an den Chips im flotten Schland-Design vorbei.

Okay oder nicht okay?

Eine andere Fraktion der ehemaligen Schlandianer ist gerade anderweitig beschäftigt. Es müssen wichtige Fragen geklärt werden: Ist die deutsche Nationalmannschaft überhaupt noch richtig deutsch? Sind die Auslä-, äh, Mitbürger mit Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft denn akzeptable Mitbürger mit Migrationshintergrund, sofern die Mannschaft mit ihrer Hilfe erfolgreich ist? Ist das dann okay? Wiegt die Chance auf den Europameistertitel schwerer als völkisches Gedankengut?

Das ist alles nicht so einfach. Nebenbei müssen ja auch noch Geflüchtete angegriffen und Asylbewerberheime in Brand gesteckt werden. Da bleibt vielleicht nicht genug Zeit für ausufernde EM-Euphorie.

Fußball lieben ohne Nationalismus?

Die große EM- und WM-Zwickmühle: Was tun, wenn man Fußball liebt, aber gar nichts mit dieser "Ich finde ein Land super, also mache ich was mit Fähnchen"-Sache anfangen kann? Patriotismus, auch die vermeintlich harmlose Party-Variante, und Nationalismus sind gefährlich – auch, wenn das ausgerechnet während Welt- und Europameisterschaften niemand hören will.

"Alle anderen Länder dürfen stolz sein, nur wir Deutschen wieder nicht!" Wer so denkt, kann sich mal mit Benedict Andersons Konzept der "imagined communities"  auseinandersetzen. Die heiß geliebte Nation als solche gibt es eigentlich nicht. Sie ist nur konstruiert, bloß ein Gedanke, der – wir erinnern uns – fatale Konsequenzen hatte.

Freude am Fußball

Trotzdem kannst du die Europameisterschaft genießen. Mein Tipp: Schließ dich mit Gleichgesinnten zusammen. Egal, ob mit Schland-Equipment oder ohne: Mit guten Freund*innen, Snacks und Getränken macht Fußball gucken richtig Spaß. Ihr könnt euch wunderbar über die Kommentator*innen lustig machen und Bullshitbingo spielen, Wetten abschließen und darüber diskutieren, ob das jetzt wirklich einen Platzverweis wert war oder nicht.

Wenn ihr euch im Freund*innenkreis uneinig seid, was die Unterstützung einer Nationalmannschaft angeht, könnt ihr auch dafür ein Bullshitbingo anfertigen, weil es bestimmt Diskussionen geben wird.

Denn fest steht: Schönen, sehenswerten Fußball wird es auch geben, wenn du nicht DIE elf Typen auf dem Platz anfeuerst, deren Pass so aussieht wie deiner.

Oh, die wundervollen Kombinationen, die unzähligen Tore, die seltsam ausgeführten Freistöße, all die verschossenen Elfmeter! Es wird ein Fest, auch ohne Nationalismus. Möge die bessere Mannschaft gewinnen. Oder der Underdog. Oder das Team mit den hübscheren Trikots.