I feel you.

Mir hat dieser Spruch aus dem Englischen schon immer gut gefallen, auch weil es kein deutsches Äquivalent dazu gibt. Zu fühlen, was unser Gegenüber fühlt; das ist eine schöne Beschreibung für eine Charaktereigenschaft, die Menschen über alle Grenzen hinweg näher zusammenbringt: Empathie.

Doch was bedeutet empathisch sein eigentlich genau? Was macht die Fähigkeit aus? Und: Kann sie erlernt und geübt werden?

In den Schuhen unserer Mitmenschen gehen

"Empathie bedeutet, in die private Wahrnehmungswelt eines anderen Menschen einzutreten und sich darin vollkommen zu Hause zu fühlen", sagte der Psychotherapeut Carl Rogers in einem Vortrag 1974. Er legte in den frühen 1960er Jahren mit den Grundstock für die therapeutische Anwendung der Empathie. Ihr Wert für das soziale Miteinander ist in der Wissenschaft mittlerweile unumstritten.

Was passiert konkret, wenn wir empathisch sind? Vereinfacht gesagt: Wir sind dann in der Lage zu verstehen, was eine andere Person durchmacht, ohne unsere Objektivität als Zuhörer*in zu verlieren. Wir sind in der Lage, es buchstäblich zu fühlen. Ein Beispiel: Wenn jemand aus dem Freundeskreis nach einer langen Beziehung verlassen wurde, können wir uns einfühlen, auch wenn wir gerade keine Trennung durchleben.

Wir können nachvollziehen, wie es sich anfühlt, diesen einst geliebten Menschen zu verlieren, der uns so nahe stand. Wir können uns die Ohnmacht vorstellen, in der die betroffene Person sich befinden muss. Die innere Zerrissenheit. Das Gefühlschaos. Die Zukunftsangst. Den dunklen Schleier, der über ihrem Leben liegt. Vielleicht zeigen wir sogar körperliche Reaktionen; unser Hals schnürt sich zusammen, wir spüren einen Stich in der Magengegend oder es kommen uns die Tränen. Und all das, obwohl wir selbst gerade in einer ganz anderen Lebensphase stecken, möglicherweise in einer sehr glücklichen Beziehung leben.

Ohne die Erfahrung selbst zu machen, fühlen wir mit, intuitiv, zum gleichen Zeitpunkt. Wir blicken durch den anderen Menschen, sind zu Gast in seiner Wirklichkeit. Wir begreifen die Situation unseres Gegenübers in ihrer gesamten Komplexität, Brutalität und Wahrheit – wir sind empathisch.

Wir können uns eine Empathiefähigkeit antrainieren und verstärken

Eine empathische Person ist aus Gewohnheit empathisch. Fühlt sich eine andere Person schlecht, fühlt sie die Misere in aller Regel mit. Ausnahmen bestätigen dabei die Regel: Ebenso wie nicht alle ehrlichen Menschen in jeder Situation ehrlich sind, sind nicht alle empathischen Menschen in jeder Situation empathisch.

Was im Kopf passiert, wenn jemand empathisch ist, ist ein Zusammenspiel aus verschiedenen Komponenten: Kognition, Verhaltensdeutung, emotionale Intelligenz, Erfahrungen, Selbstbild, der Fähigkeit zur Reflexion und mehr. Die Synergie aus all dem nennt man dann Empathie.

Einigen Menschen wird nachgesagt, sie seien empathischer als andere. Andere wiederum gelten als weniger einfühlsam. Das sind irreführende Zuschreibungen, wie der Philosoph und Autor Elliot Cohen in einem Beitrag für Psychology Today schreibt. Einfühlungsvermögen, die Empathiefähigkeit, ist eine Charaktereigenschaft, ebenso wie Ehrlichkeit. Es gibt laut Cohen nicht halb-empathisch oder manchmal empathisch: "Entweder man ist empathisch oder nicht." Allerdings kann jeder Mensch sich empathisch verhalten, ebenso wie jeder Mensch sich ehrlich verhalten kann.

Außerdem auf ze.tt: Wie unterschiedlich sind wir Menschen wirklich?

Menschen, die eine negative Erfahrung anderer zwar als schlecht verordnen können, aber nicht wirklich verstehen, wo das Problem liegt, fehle es laut Cohen an Empathie. Umgekehrt fehle es auch denen an Empathie, die zwar wissen, wo das Problem liegt, aber es einfach nicht nachfühlen können.

Doch die Eigenschaft zur Empathie lässt sich trainieren und kultivieren. Durch Übung. Ebenso wie man Ehrlichkeit erlernen kann, indem man ehrlich ist, kann man Empathie erlernen, indem man sich empathisch verhält. Cohen, der unter anderem als Begründer der sogenannten logikbasierten Therapie gilt, gibt einige Ratschläge dafür:

1. Richte deine Aufmerksamkeit auf das Wohlergehen, die Interessen und Bedürfnisse anderer

Das ist die kognitive Komponente der Empathie. Man fühlt sich genau gesagt nicht in eine Person ein, sondern fühlt mit dieser Person ein bestimmtes Thema. Dieses Thema steht meist konträr zum Wohlergehen, den Interessen oder den Bedürfnissen der Person. Mit Wohlergehen ist ganz simpel glücklich sein gemeint, oder die Abwesenheit von Schmerzen und Leid. Interessen sind wichtige Lebensziele, Wünsche, Pläne und Rechte, Liebe, Freiheit, Intimität. Bedürfnisse sind physische Dinge wie etwa Essen, Kleidung, die Möglichkeit zu schlafen und sich zu waschen.

Fehlt einem Menschen etwas von den oben aufgezählten Dingen, fällt es uns leicht, uns einzufühlen. Weil wir nachvollziehen können, wie es sein muss, wenn wir eine schwere Krankheit hätten, unsere Wünsche nicht erfüllen können oder nur unzureichend Essen zur Verfügung hätten.

2. Fokussiere dich auf menschliche Schlüsselwerte und Gemeinsamkeiten

Um empathisch sein zu können, müssen wir die Wertebasis und Perspektive anderer einnehmen. Wenn jemand einen Menschen aufgrund eines Todesfalls verliert, können wir den Verlust nachvollziehen. Wenn jemand seinen Goldfisch verliert, fällt es uns schwerer, einfühlsam zu sein, weil wir das womöglich nicht so hoch gewichten. Doch für den anderen Menschen kann dieser Goldfisch die Welt bedeutet haben. Für uns Menschen ist es immer, ausnahmslos, schlimm, etwas Geliebtes und Vertrautes zu verlieren. Wir alle fühlen uns schlecht dabei. Und wir alle erleiden Verluste in der ein oder anderen Weise.

Ein Beispiel: Man muss nicht homosexuell sein, um das Leid einer homosexuellen Person zu verstehen, die betrogen wurde. Cohen schreibt dazu: "Empathie beinhaltet die Fähigkeit, in verschiedenen zwischenmenschlichen Kontexten und trotz unterschiedlicher Kulturen auf gemeinsame menschliche Werte einzugehen." Zudem müssen wir die ganze Grausamkeit der Verluste verstehen können, uns wirklich in die Lage derer versetzen, die etwa durch Schicksalschläge ihr Heim verloren haben. Um empathisch zu sein, müssen wir uns, zumindest für den Moment, schlecht fühlen – erst dann können wir begreifen, was die Person gerade durchmacht.

3. Halte deine eigene Meinung oder Lösungsvorschläge zunächst zurück

"Naja, ich sehe das anders", "Ich kenne das auch, hatte das letztens", "Ach, das wird schon", "Aber versuchst du es damit?", "Mach es doch anders": All diese Sätze sind nicht empathisch. Die eigene Meinung, Vorurteile oder Gedanken zum Thema sind bei Empathie nicht gefragt. Zumindest nicht anfänglich. Es geht nicht darum, eine Situation zu analysieren oder sie lösen zu wollen. Es geht erst mal nur um eines: zu fühlen. Cohen schreibt, empathisch zu sein, sei in dieser Hinsicht anti-pragmatisch. Menschen, die gerade leiden, möchten vielleicht keine vorschnellen Hilfsangebote. Sie wollen sich verstanden fühlen.

Zudem müssen wir nicht mit der Weltanschauung oder der Einstellung des Menschen, mit dem wir empathisch sind, konform gehen. Tatsächlich kann sie völlig unterschiedlich zu unserer eigenen sein – ein empathischer Mensch kann sich trotzdem einfühlen. Wir müssen unser Misstrauen beiseitelegen, die Idee und die Gedankenlogik des anderen Menschen verstehen lernen. Jemand ist sehr eifersüchtig? Statt dagegen anzureden, könnten wir versuchen zu verstehen, warum das so ist. Perfekt dafür ist das aktive Zuhören: Das bedeutet, sich in einem Gespräch von eigenen Emotionen freizumachen und sich voll in das Gegenüber hineinzuversetzen und einfach nur zuzuhören. So beginnen wir, wirklich zu verstehen, was die Botschaft hinter der Botschaft ist.

Die gemeinsame Lösung eines Problems oder einer Situation kann später folgen.

4. Nutze offene Fragen und Reflexion

Wer verstehen möchte, kann offene Fragen stellen, oder einfach während eines Gesprächs oder einer Erzählung reflektieren: "Du bist sehr enttäuscht darüber, dass er dich so angelogen hat", "Du fühlst dich heute nicht wohl in deiner Haut, weil du denkst, du bist nicht schön", "Es ist sicher schwer, dass sie nun für sechs Monate weg ist". Das sind banale Beispiele, vernünftige Ansätze bieten sich aber in jedem Gespräch an – wenn man offen dafür ist.

Auch wenn man damit nicht immer richtig liegen kann, gibt es der anderen Person einen Anreiz, ihre eigene Emotionswelt weiter zu erforschen. Zudem fühlt sie sich beachtet und ernst genommen. Nur den Bogen überspannen sollten wir dabei nicht: Solche Einwürfe können auch nach hinten losgehen, wenn wir nicht darauf achten, unsere Worte rücksichtsvoll zu wählen oder sie im falschen Moment aussprechen.

5. Halte eine gesunde Distanz zwischen dir und der subjektiven Welt der Person

Wirklich empathisch kann nur sein, wer sich selbst zurücknimmt und sich – trotz allen Einfühlens – von der subjektiven Wahrnehmungswelt des Gegenübers distanziert. Am Ende bleibt sie das: Die Gedankenwelt einer anderen Person, bei der wir nur zu Gast sind, aber eben nicht an ihr teilhaben.

Ein Tipp des Philosophen: Das Thema so behandeln, als würden wir uns ein Gemälde ansehen. Wir müssen, um es erleben zu können, eine gewisse Perspektive einnehmen. Dafür sollten wir uns weder zu stark in die Gedankenwelt des*r Maler*in hineinversetzen noch diese persönliche Komponente außen vor lassen. Ein untergehendes Schiff beispielsweise ruft in uns, wenn wir uns hineinversetzen, erst Angst hervor, das Gefühl des Machtverlusts. Aber weil wir ja nicht in der Situation stecken, sehen wir in dem Gemälde viel eher eine gewisse Schönheit statt etwas, das uns vernichten würde. Auch wenn das nicht sonderlich liebevoll klingt: Diesen Kunstfilter können wir auch dann anwenden, wenn wir empathisch sein wollen. Er hilft uns, die Thematik zu durchdringen, ohne uns darin zu verlieren.

6. Üben!

Um einfühlsamer zu werden, hilft es nicht nur, Artikel wie diesen zu lesen. Die Methoden müssen dafür geübt werden, wann immer es geht. Das geht in der Partnerschaft, in Freundschaften, mit Kolleg*innen, eigentlich in jeder Lebenslage.

Ich selbst übe, indem ich so oft es geht aus meiner Komfortzone trete und mich so lange es geht mit fremden Menschen unterhalte. In diesen Gesprächen, sei es mit Obdachlosen, Geflüchteten, Reisenden oder ganz simpel Menschen, die alleine auf einer Parkbank sitzen, bemerke ich etwas Faszinierendes. Ich lerne nicht nur ihre Lebensrealität kennen, sondern immer auch etwas über mich selbst.

Auch das ist laut Cohen ein Grundpfeiler der Empathie: Die Fähigkeit, seine eigene Realität in einen Gesamtkontext setzen können. Erst dann können uns wir voll und ganz in die anderer Menschen begeben. Und dort für eine Weile bleiben. Bis wir unser eigenes Leben wieder aufnehmen und weiterziehen.