Mirjam Nuenning kommt aus einem kleinen Dorf in Nordrhein-Westfalen. Dort fiel sie auf mit ihrer braunen Haut, die sich abhob von der weißen Normalität. Oft fühlte sie sich, obgleich in Deutschland geboren und aufgewachsen, irgendwie fremd. "Es gab früher kaum Identifikationsmöglichkeiten für mich. In den Märchen zum Beispiel kamen immer blonde, weiße Prinzessinnen vor und ich dachte: Dann kann ich wohl keine Prinzessin sein", sagt Nuenning. In einem Umfeld groß zu werden, in dem man sich nirgends wiederfindet, wirkt sich negativ auf das Selbstbewusstsein aus. Davon ist sie überzeugt. Ihre Kinder sollten daher andere Erfahrungen machen.

Nuenning ging in die USA, studierte Erziehungswissenschaften an der historisch afroamerikanischen, privaten Howard University in Washington DC. Als ihre Söhne alt genug für die Kita waren, schickte sie sie in einem afroamerikanisch geprägten Stadtteil in den Kindergarten. Ein Kontrastprogramm zur eigenen Geschichte – ganz bewusst. Beruflich hat die Pädagogin ganz verschiedene Kitas evaluiert und sich dabei immer wieder mit der Bedeutung von Vielfalt und Rassismus in der Kindheit beschäftigt.

"Spätestens ab vier Jahren haben Kinder ein Bewusstsein für race. Deshalb glaube ich nicht, dass das etwas ist, vor dem man sie schützen sollte. Ganz im Gegenteil: Das, was sie sowieso erleben und feststellen, nämlich, dass es gesellschaftlich konstruierte Unterschiede und Hierarchien gibt, kann man durch ein gutes Selbstbewusstsein auffangen", sagt Nuenning. Eine Einrichtung, die das tut, hat sie in Berlin selbst gegründet.

Du bist gut, so wie du bist!

In ihrer elterninitiativen Kita wird Kindern vermittelt, sich von Labels freizumachen, die andere Menschen ihnen aufzudrücken versuchen. "Das Hauptproblem in vielen Bildungseinrichtungen ist insbesondere für Schwarze Kinder, dass du ständig zum Exoten gemacht wirst, der anders ist. Und damit geht oft einher, dass das andere minderwertig ist. Das ist meine Erfahrung in einer weißen Kita und Schule gewesen", sagt Anigo Badiane, die administrative Leiterin. Die Kita ist vor allem für Familien mit afrikanischem Hintergrund gedacht.

Man liest den Kindern Bücher vor, in denen Schwarze Hauptrollen spielen. Die Geschichten kommen aus dem Leben, führen an afrikanische Märchenwelten oder bedeutende Schwarze Persönlichkeiten wie Nelson Mandela heran. Das soll ein positives Verhältnis zur eigenen Herkunft aufbauen. In Deutsch, Englisch und Französisch betreuen Menschen den Nachwuchs, die selbst mehrheitlich familiäre Bezüge zu Afrika haben. Denn auch das kritisieren die Eltern an konventionellen Bildungseinrichtungen: Es gibt kaum nicht-weiße Vertrauenspersonen und Vorbilder.

Entstanden ist die Initiative vor allem aus einem Mangel heraus. Nach Nuennings Rückkehr nach Deutschland suchte sie für ihre kleine Tochter eine Kita. Kulturell vielfältig sollte sie sein und ein überzeugendes pädagogisches Konzept haben. Beides zusammen zu finden, stellte sich als schwierig heraus, denn Multikulti-Kitas waren programmatisch oft nicht so gut aufgestellt wie vornehmlich weiße. Über Gespräche mit Freundinnen in ähnlichen Situationen reifte die Idee einer Betreuung, die sich speziell an den Bedürfnissen Schwarzer Kinder ausrichtet. Eines davon ist, Rassismus offen zu thematisieren.

"Wir geben den Kindern einen Raum, in dem es nicht normal ist, darüber hinwegzugehen. Sie können benennen, was sie erleben. Sonst werden Schwarze Kinder mit Rassismus konfrontiert, ohne überhaupt greifen zu können, was ihnen da passiert. Dadurch sind sie hilflos", sagt Tania Hensen, Mutter zweier Kinder. Gerade vermeintlich harmloser Alltagsrassismus werde oft als Lappalie, als Meinung oder Kinderspiel abgetan.

Zu wenig Bewusstsein in Schulen und Kitas

Das bestätigt die Erzieherin und Sozialwissenschaftlerin Olenka Bordo Benavides, die die Kita pädagogisch leitet. Obwohl es mittlerweile durchaus viele Menschen im Bildungssystem mit Bewusstsein für das Problem gebe, würde es strukturell noch immer übergangen: "Die Beschäftigung mit dem Thema bleibt beliebig", so ihre Erkenntnis aus der Evaluation diverser Einrichtungen. "Im Berliner Bildungsprogramm zum Beispiel werden Inklusion und Vorurteilsbewusstsein als Ziele benannt. Aber es wird nur die pädagogisch gewünschte Haltung erklärt, aus der dann keine Verpflichtungen folgen", sagt Bordo Benavides. Doch Menschen, die in Erziehungsberufen arbeiten, dürften nicht die Wahl haben, Vorurteile zu reflektieren.

In Berlin gibt es seit 2016 eine*n Antidiskriminierungsbeauftragte*n. Zuerst war das Saraya Gomis, eine Schwarze Frau. Bordo Benavides begrüßt diese Entwicklung zwar, hält sie aber eher für ein Signälchen als für einen Paradigmenwechsel. Eine Person, bei der die Diskriminierungsfälle einer ganzen Metropole zusammenlaufen, sei viel zu wenig. Jede Bildungseinrichtung bräuchte eigene Ansprechpartner*innen. So sehen das auch andere Fachleute, Tupoka Ogette zum Beispiel. Die Trainerin für Diversity und rassismuskritisches Denken spricht sich dafür aus, Pädagog*innen bereits in der Ausbildung in Vorurteilsbewusstsein zu schulen. Denn eines ist Alltagsrassismus gewiss nicht: eine sensible Überreaktion der Betroffenen.

"Forschungen zeigen immer wieder, dass Rassismuserfahrungen – und damit meine ich den normalen Alltag in einem rassistischen System – die gleichen Symptome wie eine posttraumatische Belastungsstörung hervorrufen. Schwarze Kinder und Kids of Color leiden öfter unter Stresskrankheiten wie Neurodermitis, Asthma, aber auch Depressionen und Angststörungen", sagt Ogette. Im Handbuch Inklusion heißt es: Kinder, die in ihrer Identität als Deutsche schon in der Kita ständig infrage gestellt würden, seien mitunter tief verunsichert und hoffnungslos in Bezug auf die eigene Lebensperspektive. Sie entwickelten leicht Selbstzweifel und ein gespaltenes Verhältnis zum eigenen Land, das als ihre Heimat gesellschaftlich nicht anerkannt wird

Insbesondere, wenn die Bedingungen einer angeblich gelungenen Integration – also perfekte Sprache und angepasste Lebensweise – erfüllt seien, die Kinder aber dennoch vor allem als Exot*innen gälten, könne dies Ohnmacht auslösen. "Diskriminierungserfahrungen fordern Kraft und eine enorme Resilienz. Und zwar täglich. Schwarze Menschen und Kids of Color müssen sich im Laufe ihres Lebens ein riesiges Repertoire an Überlebensstrategien aneignen. So gesehen, macht Rassismus zu erleben zwangsweise stärker. Aber es fordert auch einen enormen Tribut", fasst Ogette zusammen.

Ein lockerer Spruch, eine Verletzung

Wo aber fängt Rassismus an? Er zeigt sich jedenfalls nicht nur an rechten Horden, die auf Ausländerhatz gehen, in Hatespeech im Internet und an populistischer Rhetorik in der Politik. Auch viele kleine Alltäglichkeiten geben den Betroffenen das Gefühl: Du gehörst nicht dazu. Der US-amerikanische Psychiater Chester Pierce und der Psychologe Derald Wing Sue haben für jene beiläufigen Bemerkungen, die die Adressat*innen – ob beabsichtigt oder nicht – beleidigen, den Begriff "Mikroaggressionen" geprägt. Aggressionen. Das verdeutlicht die eigentliche Schlagkraft solcher Äußerungen.

Beide Kommunikationspartner*innen würden dabei in ein Dilemma geraten. Denn einerseits sei das Gesagte zwar relativierbar und kein grober Angriff, andererseits sei es aus der Perspektive des Angesprochenen dennoch eine eindeutige persönliche Verletzung. Und solche hinterlassen schon früh Spuren in der Seele. Die fröhlich tanzende Afrikanerin, der Stress machende Araber, der strahlende weiße Held, braunhäutige Fremde, blonde Deutsche – das sind immer wieder gehörte und gesehene Klischees, die gesellschaftliche Rollen verteilen. Unbewusst suchen Kinder, suchen Menschen, ihren Platz darin und ordnen auch andere zu. Dabei gibt es notorische Verlierer*innen.

Der Ansatz einer Schwarzen Kita mag drastisch sein. Immer wieder hören die Eltern von anderen die Kritik, er grenze weiße Kinder aus, fördere Abspaltung und behindere die Identifikation mit der Mehrheitsgesellschaft. Doch diese Zugehörigkeit steht nicht infrage, davon ist die Initiative überzeugt. "Wir leben in Deutschland. Alle Familien haben Verbindungen zu weißen Menschen hier. Ich mache mir gar keine Sorgen, dass die Kinder nicht genügend Anknüpfungspunkte haben. Bei meiner Tochter hat der geschützte Raum einfach das Selbstwertgefühl gestärkt", sagt Initiatorin Mirjam Nuenning. Der besondere Rahmen biete schlichtweg die Möglichkeit, neue pädagogische Wege zu gehen und Rassismen wirklich aufzuarbeiten. Und wer weiß: Vielleicht würde es die Kita in einer in einer bewussteren Gesellschaft ja gar nicht geben.