Seit Anfang Oktober demonstrieren in Nigeria Tausende Menschen gegen Polizeigewalt. Auslöser für die Proteste war ein Video. Beamte der Spezialeinheit SARS (Special Armed Robbery Squad) schießen darin auf den Fahrer eines Autos, lassen seinen leblosen Körper zurück und verlassen offenbar mit seinem Fahrzeug den Tatort. Das Video mobilisierte Tausende zu Demonstrationen. Sie forderten die Abschaffung von SARS und Gerechtigkeit für die Opfer.

Es ist nicht das erste Mal, dass gegen die Brutalität der Spezialeinheit protestiert wird. Schon 2017 gingen Nigerianer*innen unter dem Hashtag #EndSARS auf die Straße. Amnesty International dokumentiert seit Jahren Menschenrechtsverletzungen: Überwiegend junge Männer sollen von SARS willkürlich festgenommen, gefoltert und durch Scheinhinrichtungen bedroht werden.

Die nigerianische Regierung löste die umstrittene Polizeieinheit Mitte Oktober auf – die Polizist*innen der Einheit sind allerdings weiter im Dienst. Die Demonstrierenden halten das für eine scheinheilige Lösung. Die Proteste ebben nicht ab. Die überwiegend jungen Nigerianer*innen, die auf die Straße gehen, kritisieren die Korruption im Land, die schlechte Regierungsführung und die schwache Wirtschaft.

Der traurige Höhepunkt der Proteste ereignete sich Dienstagnacht in Lagos beim Lekki Toll Gate, einer Mautstelle, an der sich seit Beginn der Bewegung regelmäßig Menschen treffen, um gemeinsam zu demonstrieren. Einsatzkräfte eröffneten dort das Feuer auf die Demonstrant*innen. Laut Amnesty International wurden 12 Menschen getötet. Auf Twitter trendete #Lekkimassacre.

Wir sprachen mit jungen Nigerianer*innen, welche Erfahrungen sie mit Polizeigewalt gemacht haben und warum sie auf die Straßen gehen.

Joseph*, 23, Student an der University of Ilorin, wohnt gerade in Lagos

Am Donnerstag vor zwei Wochen ging ich auf meine erste Demo. Am darauf folgenden Samstag hielt mich SARS das erste Mal in meinem Leben an. Ich fuhr an dem Morgen mit dem Auto meines Vaters durch Lagos. Meine Mutter hatte mich gebeten, schnell ein paar Besorgungen zu machen. An einer Kreuzung stiegen sie aus einem Bus und umzingelten mein Auto. SARS-Einsatzkräfte sind oft in normalen Klamotten, ohne Uniform unterwegs, man erkennt sie daran, dass sie mit Bussen rumfahren und an ihren Waffen. Es waren vier Männer. Sie beschuldigten mich, in einem gestohlenen Auto herumzufahren.

Ich widersprach ihnen, erklärte, dass es sich um das Auto meines Vaters handele. Das glaubten sie mir nicht. Dass ich nur meinen Studierendenausweis dabei hatte und nicht meinen Führerschein, war für sie ein weiterer Beweis dafür, dass ich ein Dieb sein musste. Ich flehte sie an, versuchte sie davon zu überzeugen, dass ich nur ein Student war, und gab ihnen 12.000 Naira (26 Euro). Mehr hatte ich nicht dabei. Es war nicht genug. Sie ließen mich nicht gehen.

Ich musste mich auf die Rückbank meines Autos setzen. Einer übernahm das Lenkrad. Ein anderer setzte sich auf den Beifahrersitz neben ihn. Ich quetschte mich hinten zwischen die zwei anderen. Dann fuhren wir los.

Ich dachte an meine Mutter und daran, welche Sorgen sie sich machen würde, wenn sie wüsste, wo ich war.
Joseph

Ich wollte nicht sterben, also hielt ich den Mund. Ich hatte Angst. Sie hätten mich einfach umbringen und meine Leiche irgendwo abladen können. Ich konnte niemanden anrufen. Niemandem erzählen. Ich dachte an meine Mutter und daran, welche Sorgen sie sich machen würde, wenn sie wüsste, wo ich war.

Wir waren drei bis vier Stunden unterwegs. Von Zeit zu Zeit hielten sie unschuldige Menschen auf der Straße an. Die Männer beschuldigten sie irgendwelcher Verbrechen, die sie nicht begangen hatten, drohten ihnen Gewalt an und kassierten dann Geld von ihnen. Die SARS-Leute sagten, dass sie sich genug Geld fürs Wochenende zusammensammeln wollten. Sie lachten dabei.

Wir sprachen nicht viel miteinander. Sie meinten, ich solle mich beruhigen, dass es kein Problem gäbe. Irgendwann gegen 11 Uhr morgens ließen sie mich irgendwo im Nirgendwo wieder frei und gaben mir das Auto zurück. Ich glaube, ich hatte ihnen nicht genug Geld für das Wochenende gegeben, deshalb hielten sie mich so lange fest. Die Fahrt durch Lagos war meine Strafe.

Ich bin optimistisch. Nigeria kann sich noch ändern.
Joseph

Die Proteste gegen SARS hatten da schon begonnen. Trotzdem verhielten sich diese Männer immer noch so. Bis Montag ging ich jeden Tag auf die Straße, um zu demonstrieren. Dann kam das Lekki-Massaker. Jetzt gibt es auch in Lagos eine Ausgangssperre. Wir protestieren also nicht mehr.

Im Moment steht alles auf dem Kopf. Alle reden davon, das Land zu verlassen. Nigeria ist in einem schlechten Zustand. Unsere Politiker*innen sind korrupt. Bei den nächsten Wahlen müssen wir sie endlich aus der Regierung wählen. Sie sind für SARS verantwortlich. Wenn sie die rechtzeitig reguliert hätten, gäbe es all diese Probleme nicht. Unser Präsident hat in seinem letzten offiziellen Statement nicht einmal das Lekki-Massaker angesprochen.

Trotzdem bin ich optimistisch. Nigeria kann sich noch ändern. Wir können nicht alle weglaufen. Wir müssen den Kampf fortsetzen.

Amirah*, 23, Studentin an der University of Ilorin, wohnt in Abuja

Zu Beginn waren es vor allem Männer, die gegen SARS protestierten, weil sie von der Polizeigewalt am meisten betroffen sind. Ich hatte erst kein großes Interesse an den Protesten. Dann sah ich Videos von den wenigen Frauen auf der Straße. Ich sah, wie sie von der Polizei schikaniert und belästigt wurden. Außerdem begannen Frauen, von ihren Erlebnissen von sexualisierter Gewalt mit der SARS-Einheit zu erzählen. Ich fühlte mich ihnen verbunden und konnte mich in ihr Erlebnisse hineinversetzen, auch wenn ich nicht dieselben Erfahrungen gemacht habe. Ich wollte mich mit ihnen solidarisch zeigen, also ging ich auch auf die Straße.

Das erste Mal ging ich mit meiner Schwester in Abuja, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Die anderen Male war ich allein, obwohl ich vor Ort auf viele Gleichgesinnte traf. Bei unserem letzten Protest vor der Polizeiwache in Garki griff uns die Polizei mit Tränengas an und besprühte uns mit Wasserwerfern, bis wir uns in alle in Himmelsrichtungen zerstreuten. Ich begann sofort zu rennen, als ich Wasser auf meinem Körper spürte. Die Menschen, die die Polizei fangen konnte, wurden mit Schlagstöcken verprügelt. Es wurden auch Leute verhaftet.

Wer hier aufwächst, kann überhaupt keine positive Meinung über die Polizei haben.
Amirah

Wir wussten alle, dass so etwas früher oder später passieren würde. Für die nigerianische Polizei ist Gewalt immer die Antwort auf Probleme. Wer hier aufwächst, kann überhaupt keine positive Meinung über die Polizei haben. Nicht nur SARS ist das Problem, sondern der gesamte Polizeiapparat.

Ich war also nicht überrascht von der Brutalität, aber verängstigt und sehr wütend. Diese Wut hat mich seither nicht mehr losgelassen. Es ist noch schlimmer geworden durch das, was in den letzten Tagen in Lagos, insbesondere in Lekki, passiert ist. Alles, woran ich jetzt denken kann, ist: Was wäre, wenn die Polizei auch auf mich geschossen hätte, als ich protestierte? In Lekki hissten die Demonstrierenden nur die nigerianische Flagge und sangen die Hymne, das waren Menschen wie ich. Und sie wurden getötet.

Alles, was wir wollten, war, dass die Polizei aufhört, uns zu töten, uns zu schikanieren und einzuschüchtern.
Amirah

Auch in Abuja haben die Menschen jetzt Angst davor rauszugehen. Der Polizei ist es egal, ob wir unschuldig sind oder nicht. Solange wir auf der Straße sind, werden sie das Feuer eröffnen, davon bin ich überzeugt. Aber sobald die Proteste wieder starten, werde ich auf jeden Fall wieder hingehen. Wenn wir jetzt aufhören, signalisieren wir der Regierung, dass sie uns einschüchtern kann. Die denken dann, sie könnten mit uns machen, was sie wollen.

Am Anfang waren unsere Forderungen sehr einfach. Alles, was wir wollten, war, dass die Polizei aufhört, uns zu töten, uns zu schikanieren und einzuschüchtern. Mir fällt nichts Positives zu dieser Regierung ein. Sie macht uns Bürger*innen das Leben absichtlich schwer. Das zeigt sich am Umgang mit der Covid-19-Pandemie, der weit verbreiteten Korruption, dem Stillstand im öffentlichen Dienst und der brutalen Reaktion auf die Forderung junger Menschen nach einem Ende von SARS – unsere Regierung arbeitet gegen das Volk.

Ich bin erschöpft. Ich hoffe, dass der internationale Druck die Gewalt begrenzen wird, mit der die Regierung ihre Bevölkerung angreift. Das Einzige, was wir als Nigerianer*innen tun können, ist weiterzumachen. Wir haben keine andere Wahl.

Nnadi*, 20, Student an der University of Mauritius, lebt gerade in Enugu

Ich gehe protestieren, weil ich 2017 selbst Opfer von Polizeigewalt wurde, eine der schlimmsten Erfahrungen meines Lebens. Ich war 17 Jahre alt und saß im Uber auf dem Weg zum Haus eines Freundes in Lagos. Die Leute von SARS kamen in einem Bus. Ich erinnere mich noch, dass ich zerrissene Jeans trug und im Auto laute Musik spielte. Sie riefen dem Fahrer zu, er solle anhalten. Als wir standen, stiegen drei Männer aus dem Bus aus. Ich verstand da noch nicht wirklich, was vor sich ging. Ich war vorher noch nicht mit SARS in Berührung gekommen.

Sie forderten den Fahrer auf, aus dem Uber zu steigen. Ich musste auf den Rücksitz wechseln. Dann stiegen sie mit uns ins Auto ein. Ich saß zwischen zwei von ihnen hinten in der Mitte. Der dritte saß vorne neben dem Fahrer. Ich musste meine Telefone rausholen. Ich hatte mein altes iPhone und ein neues Modell dabei, das mein Vater mir gerade gekauft hatte.

Er richtete seine Waffe auf meine Brust und sagte: 'Ich kann dich hier und jetzt erschießen.'
Nnadi

Als die Männer die Handys sahen, gingen die falschen Behauptungen los. Sie sagten, ich sei kriminell, ein Yahoo-Boy – so werden hier Internetbetrüger genannt. Das sei die einzige Erklärung dafür, dass ich mir so einen Luxus leisten könne. Mit diesem Vorwand hält SARS überall in Nigeria junge Menschen an, nicht nur mich.

Auf meinem Handy fanden sie Artikel über Bitcoin, die ich gespeichert hatte, um sie mir später durchzulesen. Damit war mein Urteil gefällt. Jetzt waren sie natürlich überzeugt davon, dass ich ein Internetbetrüger sei. Der eine Mann verlangte 500.000 Naira (1.103 Euro) von mir. Ich erklärte ihm, dass ich siebzehn sei und nicht so viel Geld besaß.

Er richtete seine Waffe auf meine Brust und sagte: "Ich kann dich hier und jetzt erschießen. Niemand wird etwas mitbekommen." Ich fing an zu weinen und zu betteln. Ich erzählte ihnen, dass ich etwa 15.000 Naira (33 Euro) in meiner Brieftasche hatte. Jeden Penny davon gab ich ihnen.

Nachdem sie das Geld genommen hatten, ließen sie uns in Ruhe und verschwanden. Ich war geschockt und bat den Fahrer, mich nach Hause zu bringen. Meinen Freund konnte ich an dem Tag nicht mehr besuchen gehen.

Ich habe Angst.
Nnadi

Meine Freund*innen und mein Bruder können ähnliche Geschichten erzählen, deshalb bin ich in Enugu auf die Straße gegangen. Schweigen ändert nichts. Bei den ersten Demos hatte ich noch das Gefühl, die Zukunft läge in unseren Händen. Inzwischen sind die Proteste aber ziemlich heftig geworden. Die Polizei hat Menschen erschossen. Deshalb bleibe ich seit Dienstag zu Hause.

Ich weiß nicht, ob ich wieder protestieren werde. Unser Präsident Muhammadu Buhari hat am Mittwoch ein Statement auf Twitter veröffentlicht. Er erklärte der internationalen Gemeinschaft, sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Für mich fühlt es sich so an, als hätte er dem ganzen Land gedroht. Ich habe Angst.

Transparenzhinweis: Aus Schutz der jungen Menschen haben wir uns dafür entschieden, ihre vollständigen Namen nicht zu nennen. Die Namen sind der Redaktion bekannt.