"Ich weiß, dass er*sie mich liebt; er*sie kann es nur nicht zeigen" – diesen Satz habe ich im Laufe der Jahre in verschiedensten Variationen von etlichen Freund*innen gehört. Vollkommen egal, wie unmöglich sich die thematisierte Person verhalten hat, es gab immer einen Grund, eine Ausrede, eine Erklärung – schwere Kindheit, hartes Leben, Pech, Probleme, innere Verknotung – sowie unerschütterliche Hoffnung auf Besserung.

Alle Beteiligten hatten eines gemeinsam: Sie setzten die Intensität des erlebten Kummers mit der Intensität ihrer Gefühle in Verbindung. Je tiefer der Schmerz, je größer das erbrachte Opfer, je schwerer das Ertragene, desto größer die Liebe. So die erschütternde, verbreitete Annahme. Nach dem Motto: Wenn ich nur genug ertrage, dann wird alles gut.

Nein. Liebe und Leid gehören nämlich nicht zusammen. Ganz im Gegenteil.

"Liebe und Leid, das hat eine lange Tradition"

"Liebe und Leid, das hat eine lange Tradition", sagt die Berliner Paartherapeutin und Beziehungsexpertin Anna Holfeld. "In jedem Liebesfilm, Theaterstück und literarischen Werk klappt das nicht so einfach mit der Liebe. Sie zeigt sich erst nach leidvoller Prüfung oder verwandelt sich in Leid."

Das ist die bekannteste Variante. Die klassische Held*innenreise, aber statt in eine uneinnehmbare Burg halt in ein eingemauertes Herz. Je härter man um und für die Liebe kämpft, desto größer die Belohnung. Daraus entsteht oft ein Anspruchsdenken à la: Ich habe so viel Kummer und Kraft investiert – mir steht die Liebe zu.

"Auf persönlicher Ebene ahmen wir nach, was wir woanders sehen", meint Anna Holfeld. "Auch hier werden die besonders leidvollen Erfahrungen meiner Ansicht nach stärker kultiviert als die lustvollen."

Logisch, "Romeo und Julia treffen und verlieben sich und führen dann eine respektvolle Beziehung, bis sie sich irgendwann auseinander entwickeln und dann einvernehmlich trennen" bietet deutlich weniger Raum für romantische Regungen im Brustkorb.

Doch der falsch verstandene Mythos vom erstrebenswerten Altruismus ist älter als Shakespeares Liebesdrama. "Der Bibelspruch ,Liebe deinen nächsten wie dich selbst' wird meiner Meinung nach als Selbstaufgabe verstanden und leider weniger als ,Ich liebe erst mich und wenn ich mich gut um mich selbst kümmere, kann ich mich auch um die anderen sorgen'", erläutert Anna Holfeld.

Dabei kann der Gedanke, sich für die Liebe aufopfern zu müssen, oder die Idee, jemanden durch ganz viel Liebe retten zu können, auch auf individueller Ebene tiefe Wurzeln haben. Dann nämlich, wenn das Selbstwertgefühl in erster Linie an Selbstaufgabe gebunden ist.

"Wenn der Selbstwert dadurch bestimmt wird, dass man sich um andere kümmert, wertet das auf", erklärt die Beziehungsexpertin. "Jedes Um-die-andere-Person-kümmern befriedigt etwas in einem selbst."

Es geht dann bei der Aufopferung und der Verbindung von Liebe und Leid also gar nicht um den*die andere*n, sondern darum, ein altes Muster zu bedienen – unbewusster Eigennutz quasi. Wer als Kind gelernt hat, dass Liebe wehtut und erkämpft werden muss, wird sich auch im Erwachsenenalter entsprechende Partner*innen suchen. Und leiden.

Wenn der Selbstwert dadurch bestimmt wird, dass man sich um andere kümmert, wertet das auf.
Anna Holfeld, Beziehungsexpertin

Welche schädlichen Auswirkungen kann das haben?

Nun ist es zwar so, dass entsprechende Beziehungen dieses Bedürfnis von Liebe und Leid erfüllen, doch damit ist selbstredend nicht alles gut. Denn die Betroffenen sind seelischen Schmerz gewohnt und suchen ihn unbewusst sogar, sie leiden jedoch auch ganz konkret.

Vor allem geht es ums Selbstwertgefühl. Sie haben sich für ihre Selbstaufwertung eine Beziehungsdynamik ausgesucht, die paradoxerweise exakt das unmöglich macht.

Genauer gesagt: Kurzfristig mögen sie sich held*innenhaft fühlen, weil sie im Namen der Liebe Demütigung, Zurückweisung und Kummer ertragen und besonders verständnisvoll und leidensfähig agieren; langfristig jedoch erodiert eine derartige Beziehung das Selbstwertgefühl.

Denn anders als in Filmen oder Büchern wird natürlich nicht zwangsläufig alles gut. Die Belohnung bleibt aus. Und ewige Aufopferung ohne echtes Happy End ist grausam.

"Wenn man in einer destruktiven und leidvollen Beziehung steckt, dann hat das negative Auswirkungen auf das eigene Selbstwertgefühl", erklärt Anna Holfeld. "Irgendwann mag man sich selbst nicht mehr dafür, dass man sich schlecht behandeln lässt und auch selber schlecht behandelt."

Mal davon abgesehen, dass Selbstaufgabe unattraktiv macht. "Wenn ich mich nur ganz danach richte, wie die andere Person mich haben will, dann wird sie mich mehr lieben – was für ein Trugschluss", sagt Anna Holfeld. "Es braucht die Unterschiedlichkeit, den Abstand, die Chance zur sogenannten Differenzierung. Dann bleiben Anziehung und positive Spannung, die zu langanhaltendem Beziehungsglück führen können, erhalten."

Wer sich hingegen assimiliere und selbst aufgebe, wer für die Liebe leidet, verliere an Anziehungskraft. Das liebesbedingte Märtyrer*innentum erzielt also das Gegenteil.

Wenn zudem eigene Bedürfnisse konsequent ignoriert werden, verliert sich irgendwann das Gefühl dafür; der*diejenige kann sich selbst nicht mehr glücklich machen und stabilisieren.

Es könne durchaus bei einigen Menschen der Fall sein, so die Beziehungsexpertin, dass sie sehr darunter leiden, weil sie sich selbst zu sehr aufgegeben haben: "Und wenn man dieses Leid zurückhält, versteckt, verdrängt, dann sucht es sich seinen Weg auf andere Weise." Dazu gehören unter anderem auch körperliche und seelische Probleme.

Außerdem kann eine Beziehungsdynamik, die auf der Verbindung von Liebe und Leid basiert, ein Nährboden für psychische und physische Gewalt sein.

"Wenn das oberste Ziel ist, dass es der anderen Person gut geht und man bereit ist, sich selbst dafür komplett aufzugeben, dann begünstigt das psychische und physische Gewalt", sagt Anna Holfeld. "Deswegen ist es so wichtig, dass jede Person lernt, gut für sich selber zu sorgen, unabhängig von anderen Menschen leben und gut Grenzen setzen zu können."

Wahre Liebe ist ...

Was statt der Verbindung von Liebe und Leid echte, tiefe Liebe ausmacht? In erster Linie gegenseitiges Wohlwollen und Wertschätzung, wie Beziehungsexpertin Anna Holfeld erklärt: "Eine gesunde Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass beide auf eine freundliche Weise miteinander umgehen, auf Augenhöhe und mit ausgeglichenen Rollen."

Klingt viel weniger dramatisch als selbstaufopferndes Verständnis, ist aber entscheidend. Das bedeutet im Detail: Beide gehen gleichermaßen gut und achtsam miteinander um. "Sie unterstützen einander darin, sich auf bestmögliche Weise zu entwickeln und fördern sich gegenseitig", so Anna Holfeld. Leid? In so einer Beziehung Fehlanzeige. Und die Vorstellung, dass Liebe und Leid zusammengehören, lässt sich durchaus auflösen. Das kostet allerdings Arbeit und Zeit.

"Der wichtigste Fokus dabei ist: Mir ist wichtig, dass es mir gut geht", sagt die Paartherapeutin. Im nächsten Schritt sei es entscheidend, zu verstehen, wann dieser Zustand eintritt und was genau ihn ausmacht.

Eine gesunde Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass beide auf eine freundliche Weise miteinander umgehen, auf Augenhöhe und mit ausgeglichenen Rollen.
Beziehungsexpertin Anna Holfeld

Anschließend lassen sich laut Expertin dann kleine Schritte in die entsprechende Richtung unternehmen: "Mal wieder Sport machen, für mehr Eigenzeit sorgen, Freund*innen treffen, sich etwas Schönes kaufen, eine freundliche Sprache für den inneren Monolog finden."

Für größere Schritte könne ein Coaching oder eine Therapie hilfreich sein. "Eine langfristige Neuprogrammierung braucht sicher auch die Reflexion der Vergangenheit: Wo kommt man her, was hat man bisher gelernt, was will man verändern?", so Anna Holfeld.

Liebe ohne Leiden

Egal, was Kultur, Gesellschaft und die verkorkste innere Stimme aus der Kindheit sagen: Liebe und Leid gehören definitiv nicht zusammen; Selbstverleugnung und Aufopferung sind kein Zeichen besonders tiefer Gefühle; wer sich verbiegt, wird dafür nicht mit Annahme belohnt.

Eine gesunde, stabile und glückliche Liebesbeziehung fußt stattdessen auf gegenseitigem Respekt und bewusst liebevollem, freundlichem Umgang miteinander. Und wer das einmal verstanden hat, kann und darf das für sich selbst einfordern.