Einen Tag vor Weihnachten lasse ich einen Menschen ohne Widerspruch schlafen gehen. Ein Bekannter, Bier in der einen, Kippe in der anderen Hand, beginnt mir im Halbsuff zu erklären, wie lange die Nazizeit doch her sei. Na und, frage ich? "Naja", sagt er, "es kann doch nicht sein, dass ich da immer noch dafür verantwortlich gemacht werde." Er schaut mich mit einem erwartungsvollen Funkeln in den Augen an, als wüsste er, dass er mich damit kriegt.

Wir sprachen vorher über Mahnmale und ich kann für einen kurzen Moment nicht glauben, wie er das jetzt auf sich projizieren kann. Dieser Moment der Irritation hat, das weiß ich heute, zu lang gedauert. Als ich gerade entgegnen will, dass ich da anderer Meinung bin, grätscht ein Kumpel ins Gespräch, zieht mich weg, an die Bar. Ich drehe mich um, der Bekannte ist auch weitergezogen. Er bleibt unwidersprochen. Ich vergesse das Gespräch, trinke Bier, rauche, tanze.

Drei Wochen später schießt mir die Situation wieder unangenehm ins Gedächtnis, als ich im Jüdischen Museum in Berlin den sogenannten Holocaust-Turm betrete.

Bin ich zu bequem geworden?

Es ist ein kühler, meterhoher Raum, nur ein Lichtschlitz lässt etwas Tageslicht herein, jeder Schritt wirft ein Echo von den kargen Steinwänden zurück. Der Architekt Daniel Libeskind wollte diesen Bereich des Museums so gestalten, dass alle ihn interpretieren können, wie sie wollen. Doch ich kann hier drin nicht anders, als mich klein zu fühlen, desorientiert, abgeschottet, alleingelassen.

Keine anderen Besucher*innen sind hier drin, ich habe den Raum für mich. Ich schnipse zweimal, blicke an die Decke. Es wirkt. Ich bin beeindruckt davon, wie kraftvoll dieser Ort ist. Wie er sich mit den wenigen ausgewählten Ausstellungsstücken, Fotos von jüdischen Menschen, die in der NS-Zeit fliehen mussten und alten Briefen, die sie ihren Familienmitgliedern schrieben, zu einem Ort des Erinnerns an sie verbindet, auch wenn man die Menschen, an die erinnert wird, nicht kennenlernen kann.

Unter all meinen Gedanken formt sich Wut. Zunächst auf die Nazis, dann auf die Neurechten, dann auf mich selbst. Ich denke zurück an das Gespräch mit dem Bekannten.

Wieso habe ich ihm nicht sofort widersprochen? Ihm gesagt, dass uns die Verantwortung für all das, was hier passiert ist, nicht erlassen werden kann? Die Menschen, die getötet wurden, haben es doch verdient, dass wir heute Verantwortung übernehmen. Warum konnte ich nicht automatisch widersprechen – während ich hier, im Jüdischen Museum, wo ich so nahe an der Geschichte bin, wo mir Empathie so einfach gemacht wird, Tränen in den Augen habe? Bin ich zu bequem geworden?

Wir sind zu bequem geworden

Ja, das bin ich. Es ist beeindruckend leicht, sich im Alltag nicht mit unserer Vergangenheit zu beschäftigen. Unsere Gedenkkultur aufrechtzuerhalten, das ist immer Aufgabe der anderen gewesen. Mahnmale wurden von Initiativen und Künstler*innen initiiert und gebaut und gepflegt. Reparations- und Entschädigungszahlungen entschieden Politiker*innen. Ein paarmal im Jahr treffen sich Menschen, um Stolpersteine zu putzen, aber die restlichen 360 Tage liegen sie einfach dort, während wir unserer Arbeit nachgehen, irgendwie unseren Lebensstress bewältigen müssen.

Für mich war das auch deshalb immer eher ein stilles Bekenntnis: Kein Vergessen, kein Vergeben. Ich habe das abgespeichert, nachdem ich es das erste Mal in der Schule gehört habe, unsere Erinnerungskultur wurde über all die 28 Jahre eine Selbstverständlichkeit für mich. Nichts, das extra nochmal erwähnt werden müsste.

Dennoch habe ich etwas Entscheidendes vergessen: dass sie eben keine Selbstverständlichkeit ist, sondern etwas, das verteidigt werden muss, auch im Kleinen. Deshalb habe ich wohl nicht erwartet, eine Diskussion führen zu müssen, die ich für ausdiskutiert hielt.

Ich erinnere mich an solche Sätze am Familienesstisch von früher: "Wir müssen doch nach vorne schauen. Es muss doch auch irgendwann mal gut sein." Egal, aus welchen Befindlichkeiten diese Gedanken entstanden sein mögen, war und ist das natürlich schon immer falsch.

Nein, es muss nicht mal gut sein. Es darf nicht gut sein.

Gut sein lassen würde bedeuten, wir fänden uns mit unserer Vergangenheit ab, lehnten die Lehren daraus ab. Gut sein lassen würde bedeuten, wir könnten an einen Punkt gelangen, an dem wir Nazis wieder die Türen zu unserem Parlament öffnen würden.

Heute sind mindestens 27 Mitarbeitende von AfD-Bundestagsabgeordneten rechtsextrem oder pflegen Kontakt in die Neonazi-Szene. Einige von ihnen gehörten der mittlerweile verbotenen neonazistischen Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) an, die stark wesensverwandt mit der Hitlerjugend war. Ein Drittel der AfD-Funktionär*innen fühlen sich dem sogenannten Flügel zugehörig, einer losen Gruppierung innerhalb der Partei, die kürzlich vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft wurde, weil er eindeutig extremistische Bestrebungen erkennt.

Parallel zum Aufstieg der Neuen Rechten steigt die rassistische Gewalt in Deutschland wieder an – und wird gleichzeitig teils von oberster Stelle verharmlost. Neonazis jagen Menschen über die Straße, jüdische Restaurants werden angegriffen, antisemitische Parolen gegrölt.

Womöglich haben wir alle es zu lange gut sein lassen.

Wir sehen gerade, was ohne Widerspruch entstehen kann

Womöglich haben wir alle zu wenig widersprochen. Während all unsere Bekannten und Familienmitglieder nämlich davon philosophieren konnten, dass sie nicht für eine Vergangenheit verantwortlich gemacht werden wollen, in der sie physisch nicht anwesend waren, entwickelte sich in unserem Land schleichend eine Gegenkultur, in der Moral und Haltung hinter der irrationalen Hetze steht. Sie manifestierte sich 2013 in einer Partei, die knapp 13 Prozent der Menschen im Land wählen würden, wäre am Sonntag Bundestagswahl.

Diese neue Partei vereinfacht nicht nur komplexe Probleme und äußert sich offen rassistisch, sie hat auch etwas gegen unsere Erinnerungskultur, die wir uns in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg als Gesellschaft erarbeitet haben. Sie macht das in ihrem Grundsatzprogramm eindeutig klar. Von "Verengung" auf zwölf Jahre wird da gesprochen, man müsse "auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte" beachten.

Das allein ist eine Verharmlosung der NS-Zeit: Diese zwölf Jahre gehören zu den fatalsten, die die Menschheit je erlebt hat. Was soll denn da bitte eine Waage austarieren, was sind diese positiven Aspekte? Etwa Gedichte? Musikstücke? Kunstwerke? Gegen mehr als sechs Millionen getötete und noch mehr gebrochene, gefolterte, zur Flucht gezwungene Menschen? Eine Gesellschaft kann nicht mehr versagen, als in diesen Jahren geschehen. Es kann gar nicht genug Demut geben, auch 70 Jahre später nicht. 70 Jahre, das ist vielleicht gerade mal so ein Menschenleben. Setzt man diese Zeitspanne in Relation zur Menschheitsgeschichte, war der Holocaust heute Morgen.

Menschen, die Teil dieser neuen Partei sind, verlassen den Saal, wenn Holocaust-Überlebende eine Mahnrede im Landtag halten. Sie lachen in KZ-Gedenkstätten. Andere sprechen von einem "Denkmal der Schande". Das alles zeugt zunächst von einer ungeheuerlichen Resistenz vor Anstand, Würde und sozialer Kompetenz. Das passiert alles aber freilich nicht grundlos: Das Fenster dessen, was okay und sagbar ist, soll nach rechts verschoben werden. Solange, bis es nicht mehr nur okay ist, darüber zu schimpfen, dass wir für unsere Vergangenheit in Verantwortung gezogen sind – sondern auch, sie einen "Vogelschiss" zu nennen.

Die Ideologie der neuen Rechten fußt darauf, Empathie, Anteilnahme und Nächstenliebe zu zerstören, egal mit welcher intellektuellen Eloquenz sie sich ausdrücken mögen. Am Ende geht es ihnen darum, Deutungshoheit zu gewinnen. Sie wollen Macht über andere ausüben. Nichts weiter. Es ist Aufgabe unserer Politik, diese Gefahr im Parlament einzudämmen, dieser Ideologie laut zu widersprechen. Auch wir haben eine Verantwortung.

Wir müssen für unser Erinnern kämpfen

Erst unsere Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, zu reflektieren, uns zu erinnern, Verstorbenen künstlerisch und architektonisch zu gedenken, ein kollektives Gedächtnis zu entwickeln, erst diese Fähigkeiten machen uns zu Menschen. Sie sind womöglich unsere größten Errungenschaften. Wer die Erinnerung und die Reflexion über unsere Vergangenheit ablehnt, denkt und verhält sich unmenschlich, ja selbstzerstörerisch. Umgekehrt kann nicht unmenschlich handeln, wer sich erinnert.

Das müssen wir unseren Mitmenschen klar machen, am Esstisch, auf der Straße, auf der Party. Wir alle müssen sie gerade dann in eine Diskussion einladen, wenn sie sich am sichersten sind.

Wer sich erinnert, kann nicht unmenschlich handeln.

Unsere Erinnerungskultur tariert unsere gesamtgesellschaftliche Moral aus, sie ist, fast wie der Glauben für viele, ein Kompass für den Alltag. Nicht ohne Grund werden wir von vielen Ländern für unsere offene Aufarbeitung der Geschichte bewundert. Sie beweist, dass eine gemeinsame Wertebasis möglich ist. Wir wären töricht, das leichtfertig über Bord zu werfen.

Ich werde nächstes Mal widersprechen.