Statt uns ständig über den orangenen Irren im Weißen Haus zu empören, sollten wir uns lieber mal wieder darauf konzentrieren, was auf unserem eigenen Kontinent so abgeht. Ein Kommentar.

Seit Trumps Inauguration ist jeder Tag ein Countdown. Gespannt sitzt der medienkonsumierende Teil der Gesellschaft vor den Bildschirmen und wartet darauf, dass in Übersee unser neues orangenes Lieblingsspielzeug aufwacht. Welches Dekret wird er heute unterzeichnen? Welche Errungenschaften der westlichen Zivilisation wird er heute mit Füßen treten?

In Europa tönt beim Kommentieren der Ereignisse häufig folgende Haltung durch: "WAS ZUR HÖLLE IST LOS MIT DER WELT ICH MEIN KLAR WAS WILL MAN ERWARTEN VON NEM LAND DESSEN WEIHNACHTSGESCHICHTE COCA-COLA ERFUNDEN HAT ABER DAS MIT DER/DEM [füge Thema eines beliebigen Dekrets ein] GEHT JETZT WIRKLICH ZU WEIT!!!11eins!" Wie ein kleiner Opi lehnt sich Europa dabei in seinem Schaukelstuhl zurück und tätschelt sich zufrieden seinen Bierbauch der Menschenrechte und Solidarität.

Stellt euch vor, ihr müsstet bei Schnee und Minusgraden in einem ungeheizten Zelt übernachten."

Ich war in den letzten zwei Monaten in Griechenland. Dort habe ich gelernt, dass Europa ein kleines unsolidarisches Arschloch ist, das Menschen hasst. Wir haben absolut keine Berechtigung, uns in unserer vermeintlichen moralischen Überlegenheit zu suhlen. Nur weil unsere Regierungen nicht anmuten, als seien sie einer Satiresendung entsprungen, heißt es nicht, dass sie menschlichere Politik machen würden.

Menschlichkeit – Schmenschlickeit

Etwa 2.500 Kilometer südlich von Berlin liegen die griechischen Inseln Lesbos, Samos, Kos, Chios und Leros. Ganz in der Nähe der türkischen Küste. Auf diesen Inseln leben etwa 14.000 Menschen, die vor Krieg und Elend geflohen sind, in Lagern, die für lediglich 8.500 Menschen ausgerichtet sind. Jeden Tag kommen mehr Menschen in den ohnehin schon überfüllten Lagern an. Es ist kuschelig wie in einer Sardinenbüchse. So kuschelig, dass die Menschen teilweise nicht mehr in die Wohncontainer oder Gebäude passen, sondern ihre mitgebrachten Zelte in irgendwelche Durchgangswege zwängen, um einen Schlafplatz zu haben.

Während die Inseln im Sommer sehr hübsch und touristisch sind, ist es im Winter ziemlich kalt dort. Minusgrade. Schnee. Wind. Matsch.

Stellt euch vor, ihr müsstet bei Schnee und Minusgraden in einem ungeheizten Zelt übernachten. Stellt euch vor, ihr müsstet jedes mal in der Kälte anstehen, wenn ihr duschen oder ein Klo benutzen möchtet. Stellt euch vor, der Strom fällt aus, ihr könnt euch kein heißes Wasser aufkochen oder euer Handy aufladen, um bei euren Liebsten anzurufen. Stellt euch vor, ihr müsst zehn Monate so leben – ständig mit der Ungewissheit darüber, wie es weitergeht mit euch und eurem Leben, weil euer Asylantrag einfach nicht bearbeitet wird.

Nicht nur Griechenland, ganz Europa ist schuld an dem Leid der Menschen in den Camps dort."

Apropos warten. Auch für die, die in den besser ausgestatteten Festlandscamps leben, ist Griechenland ein einziges Wartezimmer. Lethargisch sitzen sie auf ihren Stühlen, betrachten die große Uhr und hören den Zeigern beim Ticken zu. So verharren sie – teilweise über Monate hinweg. Die Wenigsten wollen hier bleiben. Warum sich die Mühe machen, Griechisch zu lernen oder die Kinder in die Schule zu schicken, wenn es vielleicht ja morgen schon weitergeht nach Deutschland, Holland, Frankreich oder ein anderes Land, von dem man sich bessere Zukunftsaussichten erhofft?

Das Wartezimmerdasein bekommt den Menschen nicht – vor allem nicht, wenn die oben beschriebenen Lebensumstände hinzukommen. Es zermürbt die Menschen. Alle kommen hoffnungstriefend in Europa an. Mit jedem Tag, an dem sie sich hilflos gefangen fühlen in den Mühlen europäischer Bürokratie, wird ein bisschen was von dieser Hoffnung abgekratzt.

Europa wer?

Warum warten die Menschen? Die Menschen warten, weil es eine überforderte griechische Regierung nicht hinbekommt, die Anträge angemessen schnell zu bearbeiten. Kann man das Griechenland wirklich vorwerfen? Ein wirtschaftlich zerrüttetes Land, das keine eigene Kontrolle über seine Finanzen hat?

Sobald die Balkanroute im April 2016 dicht gemacht wurde, haben sich die nördlicheren Länder aufatmend zurückgelehnt, Griechenland aufmunternd auf die Schulter geklopft und großväterlich ein bisschen Geld in die Hosentasche gesteckt. Wer in der Lage ist, Eins und Eins zusammenzuzählen, hätte die oben beschriebenen Folgen voraussehen müssen. Doch Rest-Europa schaut Griechenland beim Scheitern zu, anstatt mehr Asylexpert*innen zur Bearbeitung der Anträge zu schicken und Griechenland Geflüchtete abzunehmen, die Anspruch auf Schutz in Europa haben. Nicht nur Griechenland, ganz Europa ist schuld an dem Leid der Menschen in den Camps dort.

Die Menschen, die Europa mit seiner schlechten Politik zermürbt, werden zum überwiegenden Teil hier bleiben. Eine gute Geflüchtetenpolitik wäre es, den Menschen schnell Klarheit über ihre Zukunft zu geben, damit diese beginnen können, sich ein neues Leben in Europa aufzubauen. Eine Geflüchtetenpolitik, von der alle profitieren, würde versuchen, Hoffnung in Tatendrang zu transformieren. Stattdessen schürt Europa Frust, Hoffnungslosigkeit, Lethargie – und niemand profitiert.

Es wird Zeit, dass wir uns über Zustände empören, die sich direkt auf der Türmatte Europas abspielen. Es wird Zeit, dass wir unsere Regierungen mal wieder daran erinnern, für welche Werte Europa eigentlich steht – und wie weit die Kluft zwischen diesen Werten und der Realität leider ist. Solange wir dies nicht tun, haben wir kein Recht, ständig mit dem Zeigefinger auf die USA zu zeigen.