Ein Junge in einem roten Pulli unter Wasser. Die Kamera ist nah an seinem Gesicht. Der Junge schaut sich erst wie gelähmt um – dann beginnt schlagartig der Kampf, an die Wasseroberfläche zu gelangen. Er schafft es nicht. Der Körper des Jungens sinkt hinab. Die letzten Luftblasen perlen im Wasser. Die Kamera taucht auf. "Ertrinken dauert so lange wie dieser Film", wird eingeblendet. Eine Minute und 17 Sekunden. Er wurde am Mittwochabend im ZDF ausgestrahlt – offiziell als Wahlwerbespot der aktuell recht unsatirischen Satirepartei Die PARTEI. Diese hat den Wahlwerbespot jedoch Sea-Watch überlassen, einer gemeinnützigen Initiative, die an Europas Grenzen Geflüchtete in Seenot rettet.

Die Partei hat damit etwas geschafft, was keiner anderen Partei gelungen ist, die ernsthaft das Sterben im Mittelmeer und die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung beenden wollen: Aufzurütteln. Zu zeigen, warum die Europawahl wichtig ist.

Die SPD zeigt Europa als heile Welt, als Ponyhof der Glückseeligkeit. "Europa? Das bin ich", sagen die überwiegend weißen und gutaussehenden Menschen in die Kamera. Inhaltsleere Aussagen wie "Europa muss für uns da sein, die Menschen" oder "für ein starkes Europa" werden von behutsamer Klaviermusik begleitet. Das Video soll Pathos für ein gemeinsames Europa auslösen – wer nach etwas mehr als einer Minute nicht kurz weggedöst ist, herzlichen Glückwunsch.Die Grünen haben es etwas knackiger versucht und zeigen statt Menschen sich öffnende Blüten. Hier gibt es immerhin klare Aussagen, wie "Kommt, wir schützen lieber das Klima als die Kohle" oder "Kommt, wir treten dem Patriarchat in den Hintern" – neben allgemeingültigen Aussagen, wie "Kommt, wir sind nicht allein, wir sind viele".

Die Linkspartei hat kurzerhand ihr gefühlt komplettes Wahlwerbeprogramm in einen Spot gepackt.

Kein einziger Wahlwerbespot thematisiert das Sterben im Mittelmeer. Dabei ist wohl kein Thema wichtiger, kein Problem dringender. Die Überfahrt über das Mittelmeer ist für Migrant*innen und Geflüchtete 2018 nach UN-Angaben noch lebensgefährlicher geworden – seitdem werden zivile Seenotrettende behindert und kriminalisiert. Jeden Tag sind im Durchschnitt sechs Menschen ums Leben gekommen. Mindestens 2.275 sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bei der Überfahrt gestorben. Bis April 2019 starben bereites über 400 Menschen im Mittelmeer. Wie bedeutend ist der Kampf um höhere Mindestlöhne, wenn Menschen nur wenige Kilometer entfernt ertrinken? Wie bedeutend ist mehr soziale Gerechtigkeit, wenn Menschen nur wenige Kilometer entfernt ertrinken?

Wahrscheinlich wird sich auch das kommende EU-Parlament mehrheitlich aus rechtskonservativen und noch rechteren Parteien zusammensetzen. Dass diese Parteien sich mehr um eine solide Wirtschaft als um Menschenleben scheren, ist bekannt. Ein mehrheitlich rechtes EU-Parlament wird auch künftig nichts gegen die Abschottungspolitik der Union unternehmen. Ein mehrheitlich rechtes EU-Parlament wird auch künftig alles dafür tun, Schutzsuchenden den Zugang zu einem Asylverfahren zu erschweren. Und ein mehrheitlich rechtes EU-Parlament wird auch künftig Menschen in Seenot die Rettung verweigern. Natürlich würden andere Mehrheiten im EU-Parlament allein nicht reichen – auch die nationalen Regierungen, die im Minister*innenrat sitzen, müssten ihren Kurs ändern.

SPD, Grüne und Linke wollen die Abschottungspolitik laut ihren Europawahlprogrammen beenden. Alle wollen die zivile Seenotrettung entkriminalisieren und die EU-Seenotrettung ausbauen. Angesichts einer drohenden rechten Parlamentsmehrheit wäre es umso wichtiger, dass die sich als links verstehenden Parteien um jede Wähler*innenstimme kämpfen. Nur etwa 48 Prozent der wahlberechtigten Bürger*innen haben sich an der Europawahl 2014 in Deutschland beteiligt. Es gibt also eine Menge Menschen, die nicht zur Wahl gehen. Insbesondere diesen Nichtwähler*innen gilt es klarzumachen, um welche existenziellen Themen es bei der Europawahl geht. Das lässt sich nicht erreichen, in dem man Europa als heile Welt zeigt. Warum soll ich auch wählen gehen, wenn eh alles in Butter und Konfetti ist?

Eine Satirepartei hat vorgemacht, wie das ginge. In dem ursprünglichen Wahlwerbespot, der vom ZDF zunächst abgelehnt wurde, stand zu Beginn: "Die nachfolgende Wahlwerbung ist keine Wahlwerbung." Dieser Satz musste rausgenommen werden. Er ist auch nicht wahr. Denn der Clip ist Wahlwerbung, wenn auch keine Parteienwahlwerbung – er zeigt, warum es wichtig ist, am 26. Mai ins nächste Wahllokal zu gehen, statt auf dem Sofa rumzuliegen, ohne direkt Werbung für eine Partei zu machen. "Für den Inhalt dieses Films ist ausschließlich die EU verantwortlich", steht nun zu Beginn des Videos. Nichts ist wahrer als das.

Ende Mai wählen eine halbe Milliarde Menschen das Europäische Parlament. Doch was bedeutet Europa für junge Menschen, was wollen die Parteien – und wie funktioniert die EU? Das und mehr erfahrt ihr auf unserer Europawahl-Themenseite.